„Für Selbstbestimmtheit und Eigeninitiative im Bildungswesen würde ich mich ans Kreuz nageln lassen“, schreibt Nadja Tolokonnikowa in ihrem Buch mit dem grellen Titel „Anleitung für eine Revolution“. Dieser Mix aus Pathos, Theatralik und zivilgesellschaftlichem Engagement fasst gut zusammen, worum es der jungen Russin heute geht, die als Mitglied von Pussy Riot und mit deren „Punk-Gebet“ in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale vor vier Jahren so etwas wie Weltruhm erlangte.
Von Pussy Riot allerdings muss man sich ein bisschen frei machen, wenn man dieses Buch liest. Jedenfalls von den Bildern, die einem von dieser bisweilen enervierenden Provokationstruppe im Kopf rumschwirren. Der Kern des durchaus spannenden Buches ist der intellektuelle Reifeprozess von Nadja Tolokonnikowa – von den ersten Aktionen mit der Performance-Truppe Vojna (Krieg) seit 2008 und mit Pussy Riot ab 2011 über ihre Verhaftung und international kritisierte Verurteilung zu zwei Jahren Lagerhaft bis hin zu ihrer vorzeitigen Entlassung Ende 2013 und der Gründung eines Projektes, das sich für die Verbesserung der Haftbedingungen in russischen Gefängnissen einsetzt.
„Jede Gefangene kennt den schweren Holzknüppel“
Das Herz des aufrührerischen Punks und die Selbstbezogenheit der Künstlerin sind der 27-Jährigen geblieben, aber der Radius ihrer Aktionen scheint sich in das im heutigen Russland zivilgesellschaftlich Mögliche verschoben zu haben. „Wir müssen letztlich einfach Kontakt finden und in einen Dialog treten, gemeinsam die Wahrheit suchen, gemeinsam Weisheit anstreben, gemeinsam Philosophen sein und nicht stigmatisieren ...“
Demnach meint der Buchtitel wohl nicht nur die Revolution, die Tolokonnikowa im Russland Wladimir Putins anstoßen wollte, sondern auch ihre eigene persönliche Entwicklung. Ausschlaggebend für diesen Wandel waren die Erfahrungen, die sie im Arbeitslager gemacht hat. Interniert war sie in dem berüchtigten Frauenlager in Partza. Dieses befindet sich in der Republik Mordwinien, gelegen zwischen Moskau und der Wolga. Der zweite Teil des Buches wird zum eigentlichen Höhepunkt: Tolokonnikowa beginnt, den Gefängnisalltag und die Regeln des Lagersystems eingehend zu beschreiben. „Jede Gefangene in Mordwinien kennt den schweren Holzknüppel, der mit Klebeband umwickelt ist und den Schriftzug unseres Auftraggebers trägt. Damit schlägt die Verwaltung die Näherinnen, die ihre Produktionsnorm des 16 bis 20 Stunden langen Arbeitstages nicht erfüllen. Mit diesem Knüppel prügelt man aus den Frauen 250 Anzüge pro Tag.“
„Schimpfe und sei unanständig“
Im ersten Teil des Buches erzählt Tolokonnikowa ihre Geschichte als Aktionskünstlerin, als Teil der Gruppe Pussy Riot, die – inspiriert durch die Aufbruchstimmung in der russischen Gesellschaft, die sich 2011 mit Protesten gegen die dritte Amtszeit Putins als Präsident wendet – auf Bussen und Gebäuden auftritt, Polizisten in der Öffentlichkeit küsst und schließlich wegen ihres Auftritts in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale verhaftet wird. Der Text ist gespickt mit Zitaten von Philosophen wie Sartre und Heidegger und Feministinnen wie Lynda Benglis, von konservativen russisch-orthodoxen Popen, von russischen Politikern und, natürlich, von Putin. Dazu gibt es Auszüge aus Reportagen, die den Prozess gegen Pussy Riot beschreiben, Songtexte, eigene Tagebucheinträge. Die Kapitel enden häufig mit Aufrufen wie „Schimpfe und sei unanständig“ oder „Mach das Wasser zu Wein. Sei ein Superheld“.
Auf Dauer nervt der revolutionäre „Ich weiß, wie es geht“-Ton. Selbstkritik, Selbstzweifel sucht man vergeblich. Schließlich sind Revolutionäre von ihrem eigenen Handeln durch und durch überzeugt. So liest man: „Aber was bleibt dir außer Selbstsicherheit, wenn du dich mit 22 Jahren plötzlich in Opposition zum staatlichen Machtblock wiederfindest, der schon mal ganz andere zu Pulver verarbeitet hat?“
Immer wieder geht es auch um die „Rolle des Weiblichen“ in der russischen Gesellschaft, die Tolokonnikowa mit einer unglaublichen verbalen Aggressivität attackiert. So, als wolle sie das erstarrte Frauenbild einer extrem patriarchalischen Macho-Gesellschaft einfach wegbomben. Der Schwerpunkt der Attacken im Buch zielt aber auf das System Putin. „Wir wollten, dass Putin sich aus Russland verpisst“, beschreibt Tolokonnikowa die Motivation für ihre Aktionen, die häufig als reine Provokation kritisiert wurden, die aber laut dem russischen Journalisten Oleg Kaschin etwas ganz Grundsätzliches künstlerisch überhöhen: nämlich die „Angst der russischen Bevölkerung vor den Sicherheitsorganen, vor der Kirche, vor der Regierung, vor den Bullen“.
Eine anarchistische, kindliche Freiheit
Die besten Erklärungen für das Phänomen Pussy Riot kommen in dem Buch von Tolokonnikowas Vater, der mehrmals zitiert wird: „Die Aktionen ... haben etwas Niedliches, Kindliches, und diese anarchistische, kindliche Freiheit, die Freiheit eines herzigen Übermuts, eines närrischen und durchgeknallten Propheten ist in Wirklichkeit etwas, das Russland dringend braucht. Nur dass Russland das nicht versteht.“
Tolokonnikowas Buch mag keine literarische Meisterleistung sein, aber es bietet Einblicke in die Gedankenwelt einer mutigen jungen Frau, die daran glaubt, das ungeliebte System verändern zu können. Vor allem zeigt es eines: Das Lesen von Literatur, von Philosophen, von Welterforschern ist immer noch der beste Weg zur Freiheit.
Nadja Tolokonnikowa: „Anleitung für eine Revolution“. Hanser Berlin 2016, 224 Seiten, 17,90 Euro
Ingo Petz hat in Russland und Köln Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Seit über 15 Jahren arbeitet er als freier Journalist und Autor. Seitdem er sich 1994 in Weißrussland verliebte, lässt ihn das östliche Europa nicht mehr los.