Bleistiftrock, Blazer, Perlenohrringe. Wer Mimi sieht, würde denken, sie arbeitet in einer Kanzlei. Oder in einer Bank. Aber wenn das Einkommen aus ihrem Laborjob mal nicht reicht, für eine Winterjacke, eine Waschmaschine oder die Klassenfahrt ihres Sohnes, geht Mimi anschaffen. Sie verkauft Sex für Geld.
Seit 2002 ist Sexarbeit in Deutschland ein legaler Beruf. Trotzdem hat Mimi Angst, erkannt und geoutet zu werden. „Das ist kein normaler Job“, sagt sie, die 35 ist und eigentlich anders heißt. Daran habe auch das Prostituiertenschutzgesetz nichts geändert, das im Juli 2017 in Kraft getreten ist. „Alles nur Kosmetik“, sagt Mimi.
Das Gesetz verspreche verbindliche Regelungen für legale Prostitution und besseren Schutz vor menschenunwürdiger Ausbeutung, sagte die damalige Bundesfamilienministerin Katarina Barley nach der Einführung. Neben einer Kondompflicht sieht das Gesetz vor, dass sich Prostituierte bei einer Behörde anmelden und an einer Gesundheitsberatung teilnehmen müssen. Dann dürfen sie offiziell arbeiten und bekommen einen Schein, der in der Branche „Hurenpass“ genannt wird. Wer den bei Kontrollen nicht vorzeigen kann, muss bis zu 1.000 Euro Bußgeld zahlen.
Ende 2018 hatten rund 32.800 Prostituierte diesen Ausweis. Wie viele Frauen tatsächlich im Gewerbe arbeiten, weiß niemand. Die Zahl dürfte um ein Vielfaches höher sein. Denn die Bürokratie ist für viele Sexarbeiterinnen ein großes Problem.
Das erste Mal prostituierte sich Mimi, als im Studium das Geld für eine Exkursion nicht reichte. Ihre Eltern konnten sie damals nicht unterstützen. Heute arbeitet Mimi nur auf eigene Faust: Sie macht Hotelbesuche, 150 Euro zahlt ein Freier für eine Stunde. Im Bordell hatte sie – nach allen Abzügen – manchmal Sex für fünf Euro
Im Januar 2018 hat auch Mimi versucht, sich anzumelden. In Sachsen, wo sie damals häufig in Bordellen gearbeitet hat, sei die Anmeldung unmöglich gewesen. „Ich wurde von einer Stadt in die nächste geschickt. Niemand fühlte sich verantwortlich.“ Das Gesetz schreibt eine Anmeldung vor; welche Behörde zuständig ist, bleibt aber den Gemeinden und Kommunen überlassen. Auch in Berlin, wo Mimi ihren zweiten Meldeversuch unternahm, ließ man sie beim Bezirksamt nur einen DIN-A4-Zettel ausfüllen. „Dokumentation über den Versuch einer Anmeldung“ stand darauf.
„Ich hatte Kunden, die zu mir gesagt haben: Gut, dass du den Job machst, sonst gäbe es viel mehr Vergewaltigungen“
An der offiziellen Anmeldung, die Berlin seit Juli 2018 ermöglicht, nahm Mimi dann nicht mehr teil. Sie fürchtet, dass ihr Klarname öffentlich wird – und die Krankenkasse oder ihr Arbeitgeber von ihrem Nebenjob erfahren. Das Finanzamt führt sie als Hostess; ihr kleiner Sohn und die Kollegen wissen nichts von Mimis Nebeneinkünften. „Ich habe Angst, dass meine männlichen Kollegen den Respekt vor mir verlieren, denken, ich sei leicht zu haben oder schmutzig“, sagt sie. Und sie fürchtet, ihren Job zu verlieren, „weil man keine Hure im Unternehmen will“.
Ohne den „Hurenpass“ darf Mimi aber nicht mehr im Bordell arbeiten. Zumindest in keinem, das „sauber“ ist, wie sie sagt, also dem Gesetz entsprechend geführt wird. Viele sind es nicht: In Berlin sind beispielsweise bis Juni 2019, also knapp zwei Jahre nach Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetzes, 206 Anträge für solche Betriebe gestellt worden. Nur elf wurden genehmigt. Denn seit dem Schutzgesetz gibt es strengere Vorschriften für Bordelle: Die Betreiber dürfen nicht vorbestraft, die Prostituierten müssen offiziell angemeldet, die Arbeits- und Schlafräume müssen getrennt, Hinweise auf die Kondompflicht sichtbar angebracht sein.
Ihre Kondomtasche hat Mimi immer dabei, mit Kondomen in allen Größen. Dann gebe es keine Ausreden mehr, sagt sie
Mimi macht es nie ohne Kondom. Auch nicht, als sie von 2016 bis 2018 Vollzeit im Bordell arbeitete. „Ohne Gummi gibt es aber oft ein paar Euro extra“, weiß sie von Kolleginnen. „Die Freier versuchen, die Geldnot auszunutzen.“ Freier, die ungeschützten Sex haben, müssen bis zu 50.000 Euro Bußgeld zahlen, und die Kondompflicht gibt den Frauen die Möglichkeit, sich auf ein Gesetz zu beziehen. „Aber wer kontrolliert das schon?“, fragt Mimi. Den Ordnungsämtern fehlt es häufig an Personal – und an realistischen Möglichkeiten, zu kontrollieren, ob der Sex so (safe) stattfindet, wie vorgeschrieben.
Das neue Gesetz biete keinen Schutz, sagt sie. Es habe nichts verändert, vor allem nicht die Selbstverständlichkeit, mit der Männer ihre Befriedigung kaufen. „Ich hatte Kunden, die zu mir gesagt haben: Gut, dass du den Job machst, sonst gäbe es viel mehr Vergewaltigungen.“ Mimi zieht die Stirn zusammen, ihre Stimme bebt. „Sind Männer wilde Tiere oder was?“
Sie stellt sich viele Fragen: Wie normal kann ein Beruf sein, für den es keine Gewerkschaft gibt, keine Qualifikationsmaßnahmen, kaum Anerkennung? Ein Job, in dem sie schon Strafen an den Bordellbetreiber zahlen musste, weil sie Kunden abgelehnt hat oder nicht zur Weihnachtsfeier des Hauses gekommen ist.
In der Berliner Kurfürstenstraße geht es oft ziemlich unfürstlich zu
Einheimische und angemeldete Prostituierte gibt es an klassischen Strichs wie diesem kaum noch
Auch Simone Wiegratz will nicht von einem normalen Job sprechen. Wiegratz leitet Hydra, eine Beratungsstelle in Berlin, die sich für die rechtliche und soziale Gleichstellung von Sexarbeiterinnen mit anderen Erwerbstätigen einsetzt. Ein Gesetz, das Gesundheitsberatung, Kondompflicht und die strenge Überprüfung von Bordellen und Bordellbetreibern anordnet, müsste ganz in ihrem Sinne sein.
Wiegratz aber will nicht von einem Schutzgesetz sprechen. In finanziellen Notlagen sei Prostitution oft ein niederschwelliger Einstieg, um schnell Geld zu verdienen, sagt Wiegratz. „Leider etwas zu niederschwellig.“ Weil es kaum Hürden gibt, will Hydra beim Einstieg in die selbständige Sexarbeit unterstützen. „Wo sind die eigenen Grenzen? Was die eigenen Ziele? Wie vermarkte ich mich richtig?“, das seien Fragen, die im Gespräch geklärt werden, sagt Wiegratz.
Das „schwedische Modell“, die Freier zu bestrafen, fordern Mimi und viele andere auch für Deutschland. Zu Recht? Unsere Autorinnen streiten
30 bis 50 Frauen stehen jeden Tag an der Kurfürstenstraße. Gerhard Schönborn kann das schätzen, er kennt viele der Frauen auf dem Straßenstrich im Westen Berlins. Vor zwölf Jahren hat er zusammen mit Sozialarbeitern und Ehrenamtlichen das Kontaktcafé „Neustart“ eröffnet, eine christliche Beratungsstelle direkt an der Kurfürstenstraße.
Das „Neustart“ soll ein Wohnzimmer für die Prostituierten sein, notfalls auch ein Schutzraum vor den Freiern. „Das Privileg, Nein sagen zu können, hat kaum eine Frau auf der Kurfürstenstraße“, sagt Schönborn. „Sie brauchen das Geld.“ Geld, von dem sie den größeren Teil wieder an Zuhälter abgeben müssen.
Klassische Armutsprostitution beobachte man hier, sagt Schönborn. Seit den EU-Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007 hätten die meisten Frauen auf der Kurfürstenstraße keine Schulbildung mehr, viele könnten nicht lesen und schreiben, sagt Schönborn. Genaue Erhebungen zu in der Prostitution tätigen Personen gibt es nicht.
Gerhard Schönborn arbeitet seit gut 15 Jahren als Streetworker im Straßenstrich Kurfürstenstraße. Der ist momentan fest in ungarischer Hand, sagt Schönborn
„Es gibt immer weniger Frauen in der Kurfürstenstraße, die keinen Zuhälter haben“, sagt Schönborn. Obwohl Armutsprostitution nicht mit Menschenhandel gleichzusetzen ist, sieht Schönborn eine enge Verbindung zwischen legaler Prostitution, den EU-Osterweiterungen und der Ausbeutung derjenigen Frauen, die ins „Neustart“ kommen. „Wo Prostitution legal ist, haben Menschenhändler einfaches Spiel“, sagt er. In Schweden, wo der Sexkauf verboten ist, müssten sich Zuhälter verstecken, in Deutschland erschwerten die vergleichsweise liberalen Gesetze die Ermittlungen gegen Menschenhandel, sagt Schönborn. In Berlin standen 2017 über 90 Prozent der polizeilich erfassten Fälle von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Verbindung mit dem Prostitutionsgeschäft.
„Die Legalisierung der Sexarbeit überschminkt viele Probleme“
Mimi ist deutsche Staatsbürgerin, spricht Deutsch, kennt das deutsche Behördensystem, hat studiert und eine Steuerberaterin. Sie schreibt beim Netzwerk Ella über ihre Erfahrungen als Prostituierte. Mimi kann sich wehren. Obwohl sie finanziell von der legalen Prostitution profitiert, kritisiert sie die liberalen Gesetze in Deutschland. Sie sitzt im „Neustart“ und macht eine Handbewegung Richtung Tür. „Alles, was da draußen passiert, ist legal.“ Die sechs Frauen, die am Straßenrand vor dem Fenster stehen, kommen aus Osteuropa, aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn. Wer von ihnen freiwillig dort steht, kann niemand sagen. „Die Legalisierung“, sagt Mimi, „überschminkt viele Probleme.“
Für die Frauen, für sich selbst, eigentlich für alle Frauen in Deutschland wünscht sich Mimi, dass der Sexkauf strafbar wird: dass die Freier bestraft werden, die Prostituierten aber entkriminalisiert bleiben. So ist es beispielsweise in Schweden, Norwegen und Frankreich, wo Sexarbeiterinnen durch das Gesetz vor Macht und Zwang geschützt werden sollen.* Auf lange Sicht kann so ein Umdenken stattfinden in der Gesellschaft: Frauen sind nicht käuflich. „Das würde die Stellung der Frau generell verbessern“, glaubt Mimi. Bis es so weit ist, macht sie weiter.
* Korrektur, 04. März 2020: Hier stand zunächst fälschlicherweise, dass das schwedische (oder nordische) Modell die Sexarbeiter/innen sozial absichert. Das haben wir korrigiert.