Immer wieder spülen die Gerichte, Bewährungshelfer und Jugendämter diese jungen Männer in ihr Büro. Manchmal sind es drei neue in einer Woche. Frauen, sagt die Psycho- und Sexualtherapeutin Lucyna Wronska, seien zwar keine besseren Menschen, aber für Sexualverbrechen verurteilt würden sie fast nie.
Die Männer, die zu Wronska geschickt werden, sind oft wütend, entsetzt, gekränkt. Im Kopf haben sie oft nur einen bohrenden Gedanken: Wie kann das sein? Ich bin doch unschuldig. Die Schlampe will mich zerstören!
„Setzen Sie sich“, sagt Frau Wronska. Die Einrichtung im Therapie- und Beratungszimmer von „Kind im Zentrum“ ist schlicht. Drei gemütliche Lehnsessel vor einem Tischchen, darauf eine Uhr und ein Taschentuchspender. Der einzige Schmuck sind zwei Zimmerpflanzen, die in der Ecke stehen. Das Licht scheint durch die Lamellen einer Jalousie.
Vor 18 Jahren glaubte sie noch, dass sie nur etwas erreichen könne, wenn ihre Klienten freiwillig zu ihr kämen. Heute ist die Sexualtherapeutin dankbar, wenn Richter Menschen wie Timur* zu ihrem Glück zwingen. Er ist 19, Informatikstudent. Vor einigen Wochen hat er ein Mädchen in der Disco kennengelernt. Das Mädchen himmelte ihn an. Dass sie jünger als er war, ahnte er zwar, aber erst 13 Jahre? Timur sagt, sie habe ihn getäuscht.
„Wollen wir jetzt über Ficken sprechen oder was? Ich sag Ihnen meine Meinung, Frau Wronska: Loch ist Loch, rein muss er doch.“
Die Körperhaltung von Timur ist wie ein Panzer. Breitbeinig sitzt er da, aufgeplustert, den Oberkörper nach vorne gebeugt, provokant, bereit, sich zu verteidigen, wenn der erste Angriff kommt.
Da draußen fahren Autos durch die Stadt, auf deren Heckscheiben in Frakturschrift steht, dass man Menschen wie Timur umbringen soll. Urteil: schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes. Als er das Mädchen in der Nacht mit seinem Auto nach Hause fuhr, hatte er diesen Porno in seinem Kopf. Er überredete sie, seinen Penis in den Mund zu nehmen und ihn zu befriedigen. Die Mutter des Mädchens fand heraus, was geschehen war, und zeigte ihn an.
Jeder Sexualstraftäter, der Frau Wronska gegenübersitzt, bringt eine andere Geschichte mit. Einer hat ein Mädchen damit erpresst, Nacktfotos von ihr zu veröffentlichen. Einer hat heimlich andere Männer auf dem Klo gefilmt. Einer hat sich Kinderpornos angeschaut. Einer hatte einvernehmlichen Sex mit einem Mädchen auf der Schultoilette und steckte ihr, obwohl sie sich wehrte, irgendwann den Penis in den Po.
Täter und Opfer. Von so einfachen Begriffen hält Lucyna Wronska nicht viel. „Opfer“ sagt sie nicht, weil die Jugendlichen sich so gegenseitig beschimpfen und damit so etwas wie Memme oder Schwächling meinen. Die verknallte 13-Jährige, die Timurs Penis in dieser Nacht nach der Party in den Mund nahm, obwohl sie das eigentlich gar nicht wirklich wollte, nennt Lucyna Wronska „die Verletzte“. Auch diese Menschen behandelt die Sexualtherapeutin bei „Kind im Zentrum“. Sie sorgt dafür, dass sie stabilisiert werden, Selbstvertrauen bekommen, mit dem Geschehenen leben lernen und es nicht verdrängen. „Täter“ sagt sie nicht, weil sie der Meinung ist, dass es sich nicht nur um ein Verbrechen, sondern auch um ein Missverständnis ge- handelt hat. Einen wie Timur nennt sie lieber „sexuell übergriffiger Mensch“. Wronskas Job ist es, zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Sex muss man genau wie gutes Kochen oder Autofahren lernen, davon ist sie überzeugt.
„In welchem Sinne möchten Sie gern über Ficken sprechen?“, fragt Lucyna Wronska. Timur ist verdutzt. „Wie meinen Sie das?“ Wronska, die gern Antworten in der Sprache sucht, erzählt, dass das Wort „ficken“ altdeutsch ist und im Mittelalter entstand. „Ficken hat zwei Bedeutungen.“ Bedeutung Nummer eins: Zwei Schichten Haut reiben übereinander. Ein Kopf, der gestreichelt wird, wird also gefickt. Ein Fuß, der massiert wird, wird also gefickt. Wenn zwei Menschen freiwillig miteinander ficken, ist das wertvoll, ja, beinahe spirituell, weil es zu Entspannung und Nähe führen kann, erklärt Lucyna Wronska. „Wollen Sie mit mir über selbstbestimmte Sexualität sprechen? Oder wollen Sie über die zweite Bedeutung von ‚ficken‘ sprechen? Ficken heißt auch ‚mit einer Rute züchtigen‘ und ‚anderen Schmerzen zufügen‘.“ Timur lehnt sich in den Sessel zurück. „Aber hören Sie mal: Ich wusste nicht, wie alt sie ist. Erst bläst die Fotze mir einen, und dann zeigt sie mich an!“ „Es macht mich betroffen und todtraurig, wenn Sie das Mädchen so beschreiben“, sagt Lucyna Wronska. „Fotze?“ „Das Wort ist auch im Mittelalter entstanden. Es bedeutet ‚stinkendes Loch‘.“ Sie erzählt Timur, dass Menschen sich damals prostituieren mussten, um nicht zu verhungern. Dass ihre Geschlechtsteile eiterten und schmerzten, weil sie schwerste sexuell übertragbare Krankheiten hatten, an denen sie dann auch starben. Sie erzählt, dass Kondome Luxus sind. Und dass Timur Menschen auf Genitalien reduziert und dann auch noch auf „stinkendes Loch“. „Bleiben Sie bei Fotze?“ „Nein“, sagt Timur. „Das habe ich verstanden.“
Die allermeisten Jugendlichen wissen, dass Pornos wenig mit der Realität zu tun haben, dass sie ähnlich wie Splatterfilme grotesk übertrieben und körperlich gar nicht umsetzbar sind, manche jedoch, vor allem die sexuell Unerfahrenen, halten sie für echt. „Pornotopia“, so nennt Lucyna Wronska die Welt, in der Männer wie Timur zu Hause sind. „Sie sind davon überzeugt, dass junge Frauen oder Männer nach der Disco nach ungewaschenen fremden Penissen lechzen und orale Befriedigung das einzig Wertvolle ist“, sagt Lucyna Wronska.
Wenn die erste Mauer der Ablehnung durchbrochen ist, kommt sie mit den Jugendlichen ins Gespräch. Sie zeigt ihnen aus Stoff genähte Modelle von Geschlechtsteilen. Erklärt die Lage und Funktion der Prostata. Liest ihnen eine Geschichte vor, anhand derer sie über Uneindeutigkeiten reden will: Eine verliebte Frau muss mit einem Fährmann schlafen, um zu ihrem Geliebten zu kommen. Der verstößt sie, weil sie untreu war. Ein Dritter kommt hinzu und verprügelt den Geliebten, und die Geliebte lacht. Wer sei die sympathischste Figur, fragt sie?
Ihr gehe es nicht darum, die Kultur von Jugendlichen zu bekämpfen, sondern sie zu verstehen, sagt sie. Für ihre Arbeit muss Lucyna Wronska Raptexte von Bushido genauso gut kennen wie die Thora, die Bibel und den Koran. Wenn sich die Männer auf religiöse Schriften berufen, findet sie immer eine Stelle im selben Text, die ihre Weltanschauung infrage stellt.
Sie erzählt von mechanischen, archaischen und wellenartigen Orgasmen, vom sexuellen Wissen, das durch die Forschung mit Ultraschallgeräten zugenommen hat. Sie versucht ihnen klarzumachen, dass Befriedigung des Körpers auch jenseits von Geschlechtsteilen stattfinden kann. Berührungen. Feinmotorik. Darauf kommt es an. Im Laufe der Treffen mit Lucyna Wronska wächst bei Timur die Einsicht, dass seine Ansichten über Sex seltsam sind und er sich in der Nacht mit dem Mädchen falsch verhalten hat. „Da hatte ich aber ganz schön viel Müll im Kopf“, sagt er am Schluss.
Hin und wieder trifft sie ihre ehemaligen Klienten in der U-Bahn. „Wie geht’s, Frau Wronska?“, ruft ein Mann, der vor langer Zeit mal bei ihr war. „Gut. Und Ihnen?“ „Ich bin noch immer nicht im Gefängnis!“, sagt er und lacht.
Von denen, die zu ihr kamen, ist ihr nur einer bekannt, der auch als Erwachsener noch einmal als Sexualstraftäter verurteilt wurde. Die meisten, sagt Wronska, hätten sich nach den vereinbarten Therapiesitzungen im Griff.