fluter.de: Die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat sich in den vergangenen Jahren mit Riesenkonzernen wie Google oder Facebook angelegt. Letztlich mussten die viele Milliarden Euro Strafe zahlen. Ist das einfach ihr Job, oder ist die Frau besonders mutig?
Henrik Enderlein: Es gibt zwei Bereiche, in denen die politische Stärke von Frau Vestager sehr deutlich geworden ist. Mit den Milliardenstrafen gegenüber den amerikanischen Großkonzernen wie Google oder Apple hat sie gezeigt, dass Europa auch weltweit Regeln setzen kann. Damit hat sie Unabhängigkeit bewiesen gegenüber Großkonzernen, deren Lobbytätigkeit nicht zu unterschätzen ist. Das hat mich beeindruckt. Aber sie hat auch, und das ist ihr eigentlich noch höher anzurechnen, innerhalb der Europäischen Union Unabhängigkeit bewiesen. Sie hat eine Fusion der Zugsparten von Alstom und Siemens untersagt – gegen klaren politischen Druck aus Deutschland und Frankreich, den beiden größten europäischen Mitgliedsländern. Dafür braucht man Rückgrat.
„Es ist wichtig, dass auch Europa Weltmarktführer hervorbringt“
Erklären Sie das EU-Wettbewerbsrecht doch bitte kurz.
Wettbewerbspolitik ist in erster Linie eine juristische Analyse. Jedes Unternehmen muss im Binnenmarkt die gleichen Chancen haben. Und sobald ein Unternehmen in eine Vorteilsposition gebracht wird, muss die Behörde prüfen, ob der faire Wettbewerb davon beeinträchtigt ist. Die erwähnten Konzerne haben eine schlicht erdrückende Marktdominanz erreicht, die mit den europäischen Regeln nicht vereinbar ist. Gerade wenn sie ihr Monopol in einem Bereich nutzen, um auch in anderen Bereichen den Markt zu dominieren, verbietet das EU-Wettbewerbsrecht diese Manöver klar.
Google hatte beispielsweise versucht, Suchergebnisse zwingend mit eigenen Werbeanzeigen zu verknüpfen …
Google darf seine Position nicht ausnutzen, Punkt! Das Wettbewerbsrecht ist eindeutig. Doch dafür braucht es eine Kommissarin, die ihr Mandat ernst nimmt. Da setzt Vestager in Europa einfach Standards für die ganze Welt. Die Herausforderung für die nächste Kommission könnten chinesische Konzerne werden. Ich bin gespannt, wann Europa zum ersten Mal ein chinesisches Unternehmen wegen zu großer Marktmacht in die Schranken weist.
Es gibt häufiger die Kritik, das europäische Wettbewerbsrecht stünde „europäischen Champions“ im Weg. Zwei Zughersteller aus unterschiedlichen europäischen Ländern, die gemeinsam produzieren: Damit könnte die EU der Konkurrenz aus China oder den USA trotzen, heißt es da. Was halten Sie davon?
Natürlich ist es wichtig, dass auch Europa Weltmarktführer hervorbringt – und unser Wettbewerbsrecht muss genug Flexibilität haben, das zuzulassen. Aber ich glaube, dass das heute schon der Fall ist. Unser Problem ist nicht das Regelwerk, sondern die mangelnde Dynamik mancher Großunternehmen. Google, Facebook und Amazon sind durch ihre ambitionierten Geschäftsmodelle zu natürlichen Monopolisten geworden, nicht durch Fusionen.
„Viele denken, dass die Regeln für die anderen gelten, aber nicht für einen selbst“
Sich mit China und den USA anzulegen ist politisch gesehen womöglich trotzdem einfacher, als sich Feinde in Europa zu machen …
Ganz klar. Die Aktion gegenüber Siemens und Alstom war sehr mutig. Daraufhin hat dann auch der deutsche Wirtschaftsminister gleich gefordert, über die Ausnahmen bei der Zulassung von Fusionen solle doch zukünftig nicht die Kommission entscheiden, sondern der von Deutschland und Frankreich dominierte Rat. Das zeigt ziemlich klar, dass viele denken, dass die Regeln für die anderen gelten, aber nicht für einen selbst. Und da muss die Wettbewerbskommission eine gute Richterin sein.
Muss Brüssel häufig als Sündenbock herhalten?
Natürlich versuchen Unternehmen, sich gegenüber ihrer internationalen Konkurrenz Vorteile zu verschaffen. Die Unternehmenskultur in Europa ist weiterhin sehr national geprägt. Und dafür werden dann auch die eigenen Regierungen eingespannt. Regulatorische Unterstützung, Subventionen, Hilfen bei der Marktpositionierung – gerade wenn diese großen Konzerne in finanziellen Schwierigkeiten sind und viele Arbeitsplätze stellen, lassen sich die Regierungen da oft einspannen. Da ist es eben die Aufgabe der EU-Wettbewerbshüter, eben das nicht zuzulassen. Wie ein Schiedsrichter beim Fußball, der dafür sorgt, dass es fair zugeht. Und wer sich nicht an die Regeln hält, wird bestraft. Man merkt auf dem Feld, ob ein Schiedsrichter Autorität hat. Dann verhalten sich die Spieler von Anfang an anders. Das ist bei Frau Vestager der Fall.
Wieso ist die EU an dieser Stelle so mächtig und an anderer Stelle so schwach, wenn sich etwa Staaten bei den Steuersätzen gegenseitig unterbieten?
Bei den Steuern sind zusätzliche europäische Regeln nötig. Es ist einfach zu verstehen, warum. Eigentlich folgt die europäische Integration einer ganz klaren Logik: Es gibt einen Binnenmarkt – und der lässt keine offenen oder verdeckten Wettbewerbsvorteile zu. So ist dann auch die Währungsunion entstanden. Um zu vermeiden, dass nationale Regierungen „ihren“ Unternehmen durch Währungsabwertungen Vorteile beim Export verschaffen können, wurde der Euro eingeführt. Steuerwettbewerb ist grundsätzlich sinnvoll, aber wenn einzelne Länder nur sehr geringe oder überhaupt keine Unternehmenssteuern mehr eintreiben und die Ansiedlung von Briefkastenfirmen zulassen, dann ist das ein Problem für die gesamte EU. Wir brauchen Mindestsätze, damit es gerecht zugeht. Nun unterliegen Steuerfragen der Einstimmigkeit. Einzelne Länder blockieren den Fortschritt seit Jahrzehnten. Ich hoffe auf eine europäische Steuerharmonisierung, bin aber skeptisch, dass wir sie bald erleben.
Titelbild: Eric Herchaft/laif