Rückblick ins Jahr 2013: Die ganze Nacht hatte der Endspurt der Koalitionsverhandlungen gedauert. Hinter verschlossenen Türen diskutierten die Parteispitzen von CDU, CSU und SPD letzte Streitpunkte. Den übrigen Teilnehmern der Koalitionsverhandlungen blieb in diesen Stunden nichts anderes übrig, als zu warten. Einige schauten deshalb Fußball: Dortmund gegen Neapel. In den frühen Morgenstunden dann das Ergebnis. Die SPD hatte den Mindestlohn, die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren und den Wegfall der Optionspflicht bei der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern erreicht. Die Union den Verzicht auf Steuererhöhungen und die Pkw-Maut für Ausländer, sofern diese mit EU-Recht vereinbar ist. Der Koalitionsvertrag 2013 war beschlossen – nur gut zwei Monate nach der Wahl. Doch nun, vier Jahre später, ist die Situation um einiges komplizierter.

Was ist der Unterschied zwischen Koalitionsverhandlungen und Sondierungsgesprächen? 

In den Sondierungsgesprächen, die derzeit auch zwischen den Jamaika-Parteien laufen, muss geklärt werden, ob eine Koalition überhaupt machbar wäre. Es ist ein erstes Vorfühlen, ein Kennenlernen und ein Ausloten: Lässt sich eine gemeinsame Zukunftsperspektive entwickeln?  

In der Regel lädt dabei die stärkste Partei zum Treffen für die Sondierungsgespräche ein. Das war in diesem Jahr die Union. So breit und so lange wie jetzt bei den Jamaika-Parteien wurde in der Vergangenheit normalerweise aber nicht sondiert. Auch die Verhandlungsteams sind bei den Sondierungsgesprächen diesmal viel größer als sonst. 2005 waren es nur vier Personen: Franz Müntefering und Gerhard Schröder von der SPD, Angela Merkel und Edmund Stoiber von der Union. Jetzt sind es mehr als 50. Darunter Parteivorsitzende, Stellvertreter, Fraktionsvorsitzende und Länderchefs. FDP-Vize Kubicki hat sich bereits beschwert, in so einer großen Gruppe könne man nicht vertraulich miteinander reden. 

Erst wenn in den Sondierungen das „Ob“ geklärt ist, kann in den Koalitionsverhandlungen über das „Wie“ des gemeinsamen Regierens gestritten werden. 

Warum sind die Koalitionsverhandlungen diesmal besonders schwierig?

Die Union aus CDU und CSU ist trotz größerer Einbußen als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen. Die SPD hat eine krachende Niederlage erlebt und möchte mit der Union keine Koalition mehr bilden. Als wahrscheinlichste Option gilt damit „Jamaika“: ein Bündnis aus CDU, CSU, FDP und Grünen. Die Farben der Parteien finden sich in der Flagge des Inselstaats Jamaika. Doch von Urlaubsgefühlen könnte die Situation nicht weiter entfernt sein: Bis der Koalitionsvertrag steht, könnte es nach Ansicht von FDP-Vize Wolfgang Kubicki Januar werden – wenn es überhaupt klappt. Noch sondieren die Parteien nämlich und loten aus, ob eine gemeinsame Regierung denkbar ist. Es wäre das erste Mal, dass die Grünen auf Bundesebene mit der CDU, CSU und FDP koalieren – auf Landesebene kam im Saarland nach der Wahl im Jahr 2009 eine solche Koalition zustande, die 2012 scheiterte. Hier prallen zum Teil sehr gegensätzliche politische Weltbilder aufeinander. Das macht die Sondierungsgespräche so kompliziert.

Sowohl CDU und CSU als auch FDP und Grüne haben sogenannte „rote Linien“, also Forderungen, von denen sie nicht abweichen wollen. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer bezeichnete in der „Passauer Neuen Presse“ die Vereinbarungen von CDU und CSU zur Begrenzung der Migration als „fixe Grundlage“ für die Verhandlungen. Den Grünen wiederum ist der Familiennachzug für Angehörige von Flüchtlingen wichtig. Zudem müsse es „klare Vorfahrt für Klimaschutz“ geben und einen proeuropäischen Kurs, erklärte Parteichef Cem Özdemir kurz nach der Wahl. Und FDP-Chef Christian Lindner sagte der „Welt“: „Wir wollen eine vernünftige Energiepolitik und lehnen automatische Finanztransfers in Europa ab.“

Die Parteien stehen unter Druck: Das Grundgesetz sieht zwar keine Frist für die Bildung einer neuen Bundesregierung vor. Theoretisch könnte die alte also sogar noch bis zur nächsten Wahl geschäftsführend im Amt bleiben. Politisch aber gilt das als sehr unwahrscheinlich, den Wählerwillen derartig zu übergehen. Doch sollten sich die Parteien nicht einigen können, gäbe es möglicherweise Neuwahlen. Kommen sie aber in den zentralen Punkten zusammen, dürften in Kürze Koalitionsverhandlungen beginnen.

Der ganze Prozess ist von großer Bedeutung: „Mindestens zwei Drittel der Dinge, die eine Regierung macht, sind abgeleitet aus dem Koalitionsvertrag“, sagt der frühere SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel, der 2005 die Koalitionsverhandlungen mitkoordinierte.

Die Grüne Sylvia Löhrmann, die bereits einige Koalitionsverhandlungen miterlebt hat, vergleicht diese mit einem Fußballspiel. „Bundestrainer Jogi Löw guckt sich auch vorher die Kader der anderen Mannschaften an, wie spielen die, wie reagieren die, wenn das und das passiert. Die Mischung aus Strategie und Taktik ist wichtig“, sagte sie der „Süddeutschen Zeitung“. Auch bei Koalitionsverhandlungen analysiere man die Programme der anderen und lote aus, wo deren „No-Gos“ liegen. Schließlich will man ja so viele Forderungen wie möglich im späteren Koalitionsvertrag unterbringen. 

Aus Sicht von Wasserhövel ist die Sache sogar noch um einiges komplizierter als bei einem Fußballspiel. „Man kann es sich auch als ein mehrdimensionales Schachspiel vorstellen“, sagt er. Je mehr Parteien an den Verhandlungen beteiligt seien, desto schwieriger werde es.

 

Wie sind Koalitionsverhandlungen strukturiert? 

An Koalitionsverhandlungen sind insgesamt oft mehrere hundert Leute beteiligt. Den machtpolitischen Kern aber bildet eine „kleine Runde“. 2013 bestand diese aus 15 Personen. Sie ist auch Teil einer „großen Runde“ – 2013 mit 77 Personen. Dazu kommen mehrere Arbeitsgruppen, die die Inhalte für den Koalitionsvertrag ausarbeiten. Sie heißen etwa „Arbeit und Soziales“, „Energie“ oder „Gesundheit und Pflege“. Ein kompliziertes Konstrukt. „Deshalb ist es wichtig, dass es noch eine Steuerungsgruppe gibt, die die Verhandlungen organisiert und dafür sorgt, dass der Textprozess hin zum fertigen Koalitionsvertrag professionell läuft“, sagt Wasserhövel. „Sonst könnte es schnell chaotisch werden.“  

Welche ungeschriebenen Regeln gibt es bei Koalitionsverhandlungen? 

„Wer ein Land gemeinsam regieren will, muss sich aufeinander verlassen können. Die Chemie muss stimmen“, sagt Löhrmann. Deshalb müssen die Parteien Vertrauen zueinander aufbauen. Dafür ist auch der Ort der Verhandlungen von Bedeutung. „Psychologisch wichtig ist es, dass man wechselseitig tagt, also sich gegenseitig besucht. Oder dass man einen neutralen Verhandlungsort wählt“, sagt Wasserhövel. Derzeit tagen die Jamaika-Unterhändler im Reichspräsidentenpalais gegenüber vom Reichstag – in den Medien sind derzeit viele Bilder zu sehen, die die Spitzen von Grünen, FDP und Union auf dem Balkon des Gebäudes zeigen. „Der Ort ist neutral und klug gewählt“, findet Wasserhövel. „Man kann ihn gut erreichen und sich auch in kleineren Gruppen in das angrenzende Bundestagsgebäude zurückziehen, ohne dass es gleich alle mitbekommen.“

Oft wird während der Verhandlungen neugierig beäugt, wer sich duzt. FDP-Chef Lindner und Grünen-Chef Özdemir tun das beispielsweise schon lange. Doch diese symbolischen Vertrauensbeweise sind nur dann etwas wert, wenn die Verhandelnden auch fair miteinander umgehen. So gehört es laut Wasserhövel zum guten Ton, dass Konflikte in den anderen Parteien nicht ausgenutzt werden. „Wenn ein Spitzenkandidat einen Durchhänger hat, weil er nach einem Wahlkampfjahr ausgepowert ist, darf das auch nicht gleich an die Presse gegeben werden.“

Wichtig sei außerdem, dass unter den Verhandlungsführern klar sei, was bei den anderen „rote Linien“ seien und was nur „Taktik und Theaterdonner“. Denn „taktische Spielchen“, sagt Wasserhövel, „die finden statt, und sie gehören auch dazu.“

Wann geht es um die Posten? 

Auch wenn es eigentlich erst am Schluss entschieden wird: Wer welchen Ministerposten bekommt, spielt laut Wasserhövel die ganze Zeit im Hinterkopf der Verhandlungsführer eine Rolle. Bereits jetzt während der Jamaika-Sondierungen wurde schon viel spekuliert: Bekommt die FDP das Finanzministerium? Oder doch die CDU? Und wird Cem Özdemir Außenminister? Die Parteispitzen versuchen schon zu Beginn der Koalitionsverhandlungen, ihren Wunschkandidaten für einen Ministerposten an die Spitze der jeweiligen Arbeitsgruppe zu setzen, sagt Wasserhövel. „Aber es dauert, bis Postenwünsche auch ausgesprochen und wirklich verhandelt werden.“ Wichtig für die Parteien ist es allerdings, bei dem Geschacher um Posten ihre Kernforderungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn das käme bei der Basis und beim Wähler schlecht an.

Wie anstrengend sind Koalitionsverhandlungen? 

Die Verhandler haben oft bereits einen kräftezehrenden Wahlkampf hinter sich. Sie hatten Stress, Termindruck und bekamen viel zu wenig Schlaf. Eigentlich bräuchten sie dringend Urlaub. Doch der ist für Monate nicht in Sicht – stattdessen wird oft bis spät in den Abend hinein diskutiert. Die Verhandlungen müssen vor- und nachbereitet werden, am Ende sind alle chronisch übermüdet. „Wenn es am Schluss dann noch Nachtsitzungen gibt, dann kommt es darauf an: Wer ist noch am fittesten, wer kommt mit dem wenigsten Schlaf aus?“, erklärt Wasserhövel. Kanzlerin Angela Merkel ist darin angeblich ziemlich gut.

Bei den laufenden Jamaika-Sondierungen sollen nun bis zum kommenden Freitag erste konkrete Lösungsvorschläge für zentrale Themen vorgelegt werden.  Die offenen Fragen sollen dabei aber erstmal nur in der kleinen Runde besprochen werden.

Fotos: Murat Tueremis/laif