Es sollte ein Signal der Stärke sein: Viele Meter hoch schlugen die Flammen, als mexikanische Polizisten und Soldaten Mitte Oktober in der Nähe der Stadt Tijuana an der Grenze zum US-Bundesstaat Kalifornien knapp 135 Tonnen Marihuana verbrannten. Es war der größte Drogenfund in der Geschichte Mexikos, nun ging er in Flammen auf – Gras im Gesamtwert von über 300 Millionen Dollar, bestimmt für die Dealer und Kiffer in den USA. Als einen historischen Tag bezeichnete ein General vor Ort die Aktion, bei der ein Heer von Beamten zwei Tage lang medienwirksam Benzin auf die Marihuana- Pakete schüttete und sie in Brand steckte. Für den mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón, der seine Amtszeit dem scheinbar aussichtslosen Kampf gegen die Drogenkartelle gewidmet hat, ein dringend benötigter Erfolg, der sich nur kurze Zeit später als Pyrrhussieg erwies.
Denn direkt nach der Aktion wurden in Tijuana 13 Jungen in einem Drogen- Rehabilitationszentrum erschossen, in der Stadt Tepic im Pazifikstaat Nayarit ermordeten wenige Tage später schwer bewaffnete Männer 15 Teenager, die dort in einer Waschanlage arbeiteten. Die Täter in Tijuana hinterließen eine Nachricht, in der es hieß, dass diese Morde nur die ersten von 135 seien – 135 Opfer für 135 Tonnen verbranntes Marihuana. So ist es seit Langem: Je entschiedener der mexikanische Staat gegen die organisierte Kriminalität vorgeht, desto brutaler schlagen die Kriminellen zurück. Zu ihren Opfern gehören immer mehr Unschuldige – vor allem Jugendliche.
Vor rund vier Jahren trat der konservative Politiker Felipe Calderón sein Amt mit dem Versprechen an, die organisierte Kriminalität aus Mexiko zu verdrängen. Mehr als 50.000 Soldaten schickte er zur Unterstützung der Polizei in den Kampf gegen die Mafia-Clans, die das Land in Lateinamerika terrorisieren, aber bislang brachten mehr Sicherheitskräfte nicht mehr Sicherheit, sondern nur mehr Tote: Mehr als 10.000 Menschen sind alleine in diesem Jahr im Kugelhagel der Kartelle gestorben, 30.000 Menschen haben in diesem Krieg in den vergangenen vier Jahren ihr Leben verloren; ein Krieg, der vor allem im Norden Mexikos stattfindet, an der knapp 3.200 Kilometer langen Grenze zu den USA.
Entlang dieser Grenze zieht sich die Bundesstraße 2 durch die Wüste von Chihuahua. An ihr liegt auch die Millionenstadt Ciudad Juárez, die tödlichste Metropole Mexikos. Eine Stadt ohne Seele, geprägt von breiten Avenidas, die Fabrikhallen mit Fast-Food-Tempeln verbinden und Shopping-Malls mit Schlafstätten. Wer diese Stadt durchquert, hat das Gefühl, einen großen Vorort zu passieren, ohne jemals irgendwo anzukommen. Vier Grenzübergänge verbinden Juárez mit dem texanischen El Paso, umgeben ist die Stadt von sandigem, windigem und verlassenem Niemandsland – einem Paradies für Schmuggler, die hier ihre Flugzeuge mit Drogen für den Nachbarn im Norden vollpacken.
Seit den neunziger Jahren dominierte in Juárez das gleichnamige Kartell unter Führung von Amado Carrillo, dem sagenumwobenen „Señor de los Cielos“, dem Herrn der Himmel. Carrillo setzte als Erster Flugzeuge ein, um das Rauschgift in die USA zu bringen. 1997 starb er auf einem OP-Tisch in Mexiko-Stadt, als er sich ein neues Gesicht machen lassen wollte. Sein Tod hat Ciudad Juárez ein neues Antlitz gegeben, eine noch brutalere Visage, eine Fratze mörderischer Gewalt. Zehn Menschen sterben durchschnittlich pro Tag, am Wochenende meist doppelt so viele. Die Pistoleros strecken ihre Opfer beim Friseur nieder, verfolgen sie bis ins Krankenhaus oder erwischen sie daheim beim Fernsehabend. Manchmal werden auch Beerdigungsinstitute zum Tatort, wenn die Killer auch noch die Angehörigen während der Trauerfeier töten.
Seit Carrillos Tod tobt der Kampf zwischen dem Juárez- und dem Sinaloa-Kartell, der mittlerweile mächtigsten Mafia Mexikos. Beide teilen sich mit fünf weiteren Kartellen den Drogenmarkt auf. Nach Erkenntnissen der US-Fahnder ist Mexiko Drehkreuz für 60 bis 90 Prozent des in den USA konsumierten Kokains, das vor allem aus Kolumbien, aber auch aus Peru oder Bolivien stammt. Zudem versorgen die Kartelle den US-Markt mit Marihuana, Heroin und synthetischen Drogen. Ein Geschäft von rund 100 Milliarden USDollar, das sind mehr als elf Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts. Es ist nicht nur der riesige Konsumentenmarkt für Drogen, den Mexiko vor der Tür hat, der das drittgrößte Land Lateinamerikas zu einem idealen Spielfeld für die organisierte Kriminalität macht. Es ist auch der Umstand, dass die Macht der Kartelle längst in die staatlichen Institutionen eingesickert ist. Diejenigen, die eigentlich die Menschen schützen sollen, sind oft selbst kriminell. Weil jede Gemeinde ihre eigenen Polizisten hat, stellt die relativ integre Bundespolizei nur 35.000 von landesweit 427.000 Ordnungshütern. Die anderen gehören den Gemeinden an, sind oft schlecht ausgebildet und leicht von der Mafia zu bestechen oder erpressbar. Selbst die Staatsanwaltschaft arbeitet nicht unabhängig, eher ist die Korruption auch in ihren Reihen an der Tagesordnung. Die Organisation Transparency International listet Mexiko in ihrem aktuellen „Corruption Perception Index“ auf Rang 98 von 178 untersuchten Ländern. Zwar wurden zwischen Dezember 2006 und März 2010 über 120.000 verdächtige Personen verhaftet, verurteilt wurden bis zum Februar dieses Jahres aber nicht mal 1.000.
Besonders häufig ermorden die Todesschwadrone der Drogenmafia Unschuldige und Jugendliche
Eine knappe Stunde Fahrt von Ciudad Juárez liegt der Ort Praxedis G. Guerrero: rund 8.500 verängstigte Einwohner, ein erschossener Polizeichef, ein getürmter Bürgermeister und mittendrin Marisol Valles, die vielleicht mutigste Frau Mexikos. Die 20-Jährige wurde in den vergangenen Wochen zu einer kleinen Berühmtheit, weil sie einen Job macht, den niemand wollte, den des Polizeichefs von Praxedis. Die Männer, von denen hier viele machohaft Cowboystiefel und -hüte tragen, hatten vorsichtshalber weggeschaut, als der neue Bürgermeister José Luis Guerrero den Posten zu vergeben hatte. Nur Marisol Valles zögerte nicht, obwohl sie einen Mann und einen sieben Monate alten Sohn hat. Wirklich qualifiziert ist sie nicht für den Job: Ihr Examen im Fach Kriminologie will sie erst in diesem Jahr machen. Eine Waffe trägt sie auch nicht, auf Leibwächter verzichtet sie. „Am Anfang war mein Mann nicht begeistert, er hat da schon ein bisschen geschluckt“, sagt die junge, dunkelhaarige Frau mit der strengen Brille. „Aber jetzt geht es. Ich habe ihm von meinen Ideen erzählt, und nun tragen wir das als Familie.“
Ihre Ideen, sie klingen noch etwas wie die Wahlkampfversprechen eines Politikers: „Ich will den Menschen in meiner Gemeinde das Vertrauen und die Ruhe zurückgeben.“ Beides haben ihnen die einheimischen Rauschgiftbarone aus Ciudad Juárez und deren Rivalen aus Sinaloa genommen. Im Tal von Juárez, zu der die Millionenstadt und das weite Hinterland gehören, beklagt man jedes Jahr knapp 3.000 Opfer. In dem Dorf Praxedis G. Guerrero sind es seit Jahresbeginn schon 17 Tote. Die Opfer all dieser Bluttaten sind oft kaum so alt wie Marisol Valles, die 13 Mitarbeiter hat – zehn davon Frauen –, ein Polizeiauto und drei Mopeds. Schon angesichts dieser bescheidenen Mittel gegen die waffenstarrende Übermacht der Gangster sieht sie sich eher als eine Art Sozialarbeiterin: „Wir gehen von Haus zu Haus und reden mit den Familien, ermuntern sie, schaffen Vertrauen. Mein Job ist weniger, Verbrechen zu verfolgen, als vielmehr zu verhindern, dass Verbrechen geschehen.“ Ansetzen will sie daher bei den Kindern und Jugendlichen – viele der Erwachsenen stecken selbst schon zu tief im Drogensumpf. „Die Menschen gehen nicht mehr auf Feste oder sonntags auf den Gemeindeplatz, sie gehen nicht mehr zum Fußball. Das will ich ändern.“ Ob sie selbst Angst hat? „Natürlich“, sagt sie, „das gehört hier überall dazu.“
Keine Angst mehr zu haben bedeutet in Mexiko nichts Gutes. Denn keine Angst haben hier oft Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, weil ihr Leben bereits zerstört ist. Wie das Leben von Luz Maria Dávila. Die 43 Jahre alte Frau sitzt an ihrem Küchentisch, den Blick auf die abwaschbare Tischdecke mit den Blumenmotiven gesenkt. Sie erzählt, bis die Tränen ihre Erzählung ersticken. Sie hat Albträume, aus denen sie nachts hochschreckt, immer dann, wenn sie im Schlaf wieder den unverwechselbaren Soundtrack zum ewig gleichen Horrorfilm hört: erst die Salven aus automatischen Gewehren, dann quietschende Reifen, der kurze Moment der Stille, bis die Schreie einsetzen. Der mexikanische Drogenkrieg hat sich mit all seiner Grausamkeit und Absurdität in ihr Leben gedrängt und das ihrer Söhne Marcos, 19, und José Luis, 16, ausgelöscht. An einem Samstagabend Anfang dieses Jahres feierten sie im Arbeitervorort Villas de Salvarcar mit rund einem Dutzend anderer Jugendlicher eine Geburtstagsparty, als gegen 22.30 Uhr sechs Killer in drei Pick-up-Trucks vorfuhren und die Gäste mit ihren automatischen Gewehren niedermähten. Ihr jüngstes Opfer war 13 Jahre alt. 150 Meter entfernt von diesem Massaker schaute Luz María eine Telenovela, als sie die tödlichen Schüsse hörte. Am Tatort fand sie ihren älteren Sohn tot, begraben unter zwei blutüberströmten Leichen. „Der Kleine hatte 18 Kugeln im Bauch und eine im Kopf, er starb am anderen Tag“, sagt sie und rettet sich für einen Moment in die Nüchternheit der Gerichtsmediziner. Luz Maria Dávila hebt den Blick, es liegt Wut darin. Nicht nur auf die Mörder ihrer Söhne, die frei herumlaufen, sondern auch auf die Politiker, die das Morden nicht stoppen können. Vor allem auf den Präsidenten Felipe Calderón.
Denn zunehmend breitet sich der Albtraum eines Staates, der die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr aufrechterhalten kann, auch in anderen Teilen des Landes aus. Neulich wurden mehrere Jugendliche in Tepito, einem der gefährlichsten Viertel von Mexiko-Stadt, ermordet. Es waren vermutlich kleine Dealer, die auf der Lohnliste eines konkurrierenden Kartells standen. Für die einen war es nur ein weiteres Gewaltverbrechen in der Neun-Millionen-Stadt. Für andere war es der Beweis, dass der Drogenkrieg jetzt auch in der Hauptstadt angekommen ist. Und es sieht nicht so aus, als wäre er bald vorüber. Die von Präsident Calderón angestrebte Vereinheitlichung der Polizei findet im Parlament keine Mehrheit, allzu viele Gemeindepräsidenten und Gouverneure lassen sich die Gefügigkeit ihrer Polizisten vergelten. Am fehlenden politischen Willen aller Parteien scheitert auch die effektive Bekämpfung der Geldwäscherei. Die Geldströme, mit denen Beamte, Waffen und Mörder gekauft werden, fließen fast ungehindert weiter. Und was sagt Calderón zu den 30.000 Toten, die der Drogenkrieg bislang gefordert hat? Die Zahl, so der Präsident, werde wohl noch eine Weile ansteigen.