Frau Sassen, Sie haben vor 16 Jahren New York, London und Tokio als »globale Städte« bezeichnet. Was ist das?
Eine Stadt, in der Unternehmen sitzen, die die globalisierte Wirtschaft steuern.
Sind New York, London und Tokio die einzigen globalen Städte?
Als die Globalisierung in den Achtzigerjahren begann, gehörten sie zu den ersten globalen Städten. Später kamen Städte wie Mexico City, São Paulo oder Shanghai hinzu. Heute gibt es etwa vierzig globale Städte auf der Welt.
Warum sind Städte überhaupt noch wirtschaftlich von Bedeutung? Dank Internet, E-Mail und Telefon kann man doch genauso gut auf dem Land arbeiten.
Experten haben schon Ende der Siebzigerjahre gesagt, die Informationstechnologie werde dazu führen, dass die Städte ihre wirtschaftliche Stellung verlieren. Das Gegenteil ist eingetreten. Städte sind Wissenszentren-umgebungen, in denen sich die besten Arbeitskräfte sammeln.
Trotzdem sitzen viele internationale Konzerne nicht in großen Städten. Die Zentrale von Volkswagen ist in Wolfsburg, die von Nike in Beaverton.
Der Konzernsitz ist nicht entscheidend. Nehmen Sie New York: Als ich Ende der Siebzigerjahre dorthin gezogen bin, haben viele große Konzerne die Stadt verlassen. New York war pleite. Ich habe damals Reinigungskräfte an der Wall Street interviewt. Wenn sie um Mitternacht ihre Mittagspause gemacht haben – sie haben das wirklich „Mittagspause“ genannt –, habe ich mich zu ihnen gesetzt und ihnen zugehört. Sie haben mir erzählt, dass in den Hochhäusern jetzt nicht mehr die großen Konzerne, sondern viele kleine Firmen arbeiten. Die übernehmen wichtige Managementaufgaben für die großen Konzerne und haben einen großen Einfluss auf die Weltwirtschaft.
Was sind das denn für Firmen?
Hoch spezialisierte Unternehmen mit Spitzenleuten: Kanzleien, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberatungen. Es ist doch so: Ein Konzern kann in der globalisierten Wirtschaft viel Geld verdienen, aber sein Geschäft ist auch viel schwieriger geworden. Er muss nicht nur einen Markt, sondern siebzig, achtzig oder hundert Märkte kennen. Jeder von ihnen hat seine eigene Rechtsprechung, eigene Regeln für die Buchhaltung, eigene Steuergesetze. Um weltweit zu wirtschaften, brauchen die Konzerne heute ein unglaubliches Wissen. Dieses Wissen liefern diese kleinen, spezialisierten Firmen.
Und steuern damit die Globalisierung?
Zumindest zum Teil. Manche Konzerne haben inzwischen auch eigene Abteilungen für diese Aufgaben eingerichtet. Aber die haben sie wieder in globalen Städten angesiedelt, weil sie dort die geeigneten Arbeitskräfte finden. Auch das Finanzwesen hat einen starken Einfluss auf die Globalisierung und konzentriert sich in den globalen Städten.
Inwiefern verändern sich Städte, wenn sie global werden – zum Beispiel New York?
Das Finanzviertel ist enorm gewachsen. Die Viertel, in denen die Banker, Juristen und Manager wohnen, sind renoviert und veredelt worden. Ich nenne das die Glamour-Zone: Hochhäuser von Stararchitekten, Restaurants mit Sterneköchen, Designergeschäfte, renovierte Luxusapartments. Viele Angestellte in Manhattan sind jung, Singles und haben hohe Gehälter. Sie arbeiten hart, aber sie wollen ihr Geld auch ausgeben. Manhattan ist das Silicon Valley der Finanzwelt.
Aber diesen Luxus können sich nur wenige leisten.
Das ist die Kehrseite. Die Dienstleistungs-gesellschaft hat dazu geführt, dass die Gehälter immer weiter auseinanderklaffen: auf der einen Seite sind die Banker und die Manager, auf der anderen Seite die Putzkräfte, die Kellner und die Kindermädchen. Einige Wissenschaftler sprechen sogar von einer neuen Dienerklasse. Das ist natürlich ein brutaler Ausdruck, aber er bringt es auf den Punkt.
Wo leben die Reinigungsmänner, Kellner und Kindermädchen? In Manhattan können sie ja nicht mehr wohnen.
Sie ziehen in andere Stadtteile, bis sie auch von dort wieder verschwinden müssen. Der Mittelklasse geht es genauso. Wer sich nicht vor vierzig Jahren ein Apartment gekauft hat, zieht weg aus Manhattan. Andere verlieren ihr Zuhause. Ende der Achtziger ist in New York eine neue Gruppe von Obdachlosen entstanden: Familien mit Kindern. Kinder stellen heute den größten Anteil der Obdachlosen.
Vor zwei Jahren brannten Autos in den Vorstädten von Paris. Ist diese Form von Gewalt eine Antwort auf die Einkommensunterschiede in globalen Städten?
Ja. Es ist eine politische Antwort auf die Einkommenskluft, auch wenn es diese Gewalt nicht nur in globalen Städten gibt. Sie entsteht am Rand der westlichen Großstädte, wo sich die Benachteiligten und die Einwanderer sammeln. Ich nenne diese Stadtteile Postkolonien. Die Kolonien von heute sind nicht in Afrika oder Asien, sondern hier bei uns. Sie bilden ein eigenes Milieu mit einer eigenen Kultur. So sind auch die Gangs in amerikanischen Großstädten zu erklären. Diese Jugendlichen orientieren sich nicht an ihren Eltern mit ihren schlecht bezahlten Jobs, sondern an Gleichaltrigen. Die Kinder der Mittelklasse treffen sich im Internet auf Youtube, die Kinder an den Stadträndern in Gangs. Die Gangs sind ein Ausdruck ihrer Identität.
Gibt es in Deutschland globale Städte?
In Deutschland gibt es vier weltweit vernetzte Städte. Hamburg ist eine Hafen- und Medienstadt. In München sitzen viele Elektronikfirmen und Versicherungen, Berlin zieht Künstler und Softwarefirmen an. Aber die einzige wirklich globale Stadt ist Frankfurt mit seinen Banken.
Sind alle Megastädte auch globale Städte?
Nein. Die Größe einer Stadt ist nicht entscheidend. In China liegen einige der größten Städte der Welt, ohne dass die jemand kennt. Aber es gibt auch Megastädte, die globale Städte sind: Mexico City und São Paulo zum Beispiel. Hier sitzen die Firmen und Banken, die die Wirtschaft Lateinamerikas steuern. Dass sie so groß sind, hat aber eher damit zu tun, dass die Landbevölkerung verarmt und Jobs in den Städten sucht.
Sind „global cities“ inzwischen wichtiger als einzelne Staatsregierungen?
Als viele Staaten in den Neunzigerjahren ihre Märkte geöffnet haben, entstanden dadurch auch neue globale Städte, die diese Märkte steuern und mit dem Netz der globalen Wirtschaft verbinden. Die globalen Städte bilden ein Netzwerk, und dieses Netzwerk geht über Landesgrenzen hinweg. Sie koppeln sich von der Umgebung ab. London hat mit New York mehr gemeinsam als mit dem Rest Großbritanniens. Frankfurt und Chicago sind über Finanzgeschäfte stark miteinander verbunden. Aber natürlich haben die Nationalstaaten weiterhin einen gewissen Einfluss auf das Wirtschaftsleben.
Hat eine globale Stadt ihren Einfluss auch mal wieder verloren?
Nein, aber das liegt daran, dass die Globalisierung noch nicht abgeschlossen ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass bestimmte globale Städte ihre Stellung irgendwann wieder verlieren werden. Das ist in der Vergangenheit ja auch geschehen. Nehmen Sie Venedig: Im 15. Jahrhundert war das eine wirtschaftlich bedeutende Stadt – heute ist es nur noch eine Touristenattraktion.
Saskia Sassen,58, ist Professorin für Soziologie an der Columbia-Universität in New York und an der London School of Economics. Die Amerikanerin beschäftigt sich mit Einwanderung und dem Einfluss der Globalisierung auf Städte. 1991 veröffent-lichte sie The Global City: New York, London, Tokyo und prägte damit den Begriff der globalen Stadt. Demnächst erscheint von ihr Das Paradox des Nationalen.
Steuersysteme
„Die Kolonien von heute sind nicht in Afrika. Sondern hier bei uns.“
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