Was macht ein Spieler, wenn er von zwei Gegnern mit Äxten angegriffen wird? Sich in den Schnee werfen, so lange umherrollen, bis die Angreifer verwirrt sind, und dann die Hand ausstrecken und sie streicheln.
In den meisten Computerspielen würde man den Gegner ganz einfach erschlagen. „Undertale“, ein Independent-Spiel, das gerade für Furore sorgt, ist da anders. Das Rollenspiel hält den Spieler nämlich dazu an, das eben nicht zu tun.
Der Protagonist ist ein Kind im gestreiften Pullover, das auf einen verrufenen Berg gestiegen und auf dem Gipfel in ein Loch gefallen ist. Dort unten in der Tiefe wohnen die Monster, die die Menschen nach einem Krieg unter die Erde verbannt haben. Der Weg des Kindes nach Hause führt die Welt der Monster hin zu ihrem König, der Jagd auf Menschen macht. Klassische Story, alle umhauen und ab nach Hause.
So kann man „Undertale“ auch tatsächlich spielen, als mäßig schwieriges Rollenspiel, mit Erfahrungspunkten und Gold für erschlagene Gegner, wobei diese abgedrehter und witziger sind als im Genre allgemein üblich. Das Gleiche gilt für die Kämpfe, kreative Minispiele, die zu den jeweiligen Gegnern passen. Ein missmutiger Geist greift etwa mit seinen Tränen an. Wer nicht sterben will, muss mit den Pfeiltasten ausweichen. Ein paar eher lustige als knifflige Rätsel sind zu lösen, und das alles in einer Grafik, die an alte Spiele aus der „Zelda“-Reihe erinnert.
Wirklich spannend wird es jedoch erst, wenn man das Potenzial des Spiels ausschöpft und anfängt, anders zu handeln als erwartet. Also den Weg nach Hause zu finden und dabei kein einziges Monster umzubringen. Das entspricht der gleichen Logik, nach der Rollenspiele sonst auch funktionieren. Bei den Fußsoldaten weiß man recht schnell, wie sie am Leben bleiben und man trotzdem an ihnen vorbeikommt. Bei den Bossen wird es immer komplizierter.
Lass das Messer stecken
Das Kampfsystem bietet neben der Option, einfach zuzuschlagen, auch die Möglichkeit, mit den Gegnern zu reden oder anderweitig mit ihnen zu interagieren. Wenn dann also zwei Wachhunde mit großen Äxten auf uns losgehen und wir lesen, dass sie versuchen, uns zu wittern, dann kann man sich eben im Schnee wälzen und so tun, als sei man einer von ihnen, und wenn sie das dann glauben, ist es nur noch ein Schritt, bis sie verstehen, dass auch Hunde Hunde streicheln dürfen.
Um die jeweils richtige Strategie herauszufinden, muss man manchmal recht lange herumprobieren. Das Spiel bietet einem nur ein paar Wörter an, auf die sich klicken lässt. Die variieren je nach Gegner, im Fall der beiden Hunde: „Check“, „Pet“, „Re-Sniff“ und „Roll Around“. Die Logik, nach der man diese Handlungen kombinieren muss, erschließt sich nicht immer sofort. Das prüft den Pazifisten in der Spielerin und dem Spieler manchmal hart, denn auch wenn man selbst als Friedensfreund durch die dunklen Gänge wandelt, die meisten Gegner greifen erst mal an, solange sie nicht überzeugt sind, dass es auch ohne Gewalt geht. Wer nicht geschickt genug ausweicht, der stirbt und läuft am letzten Speicherpunkt noch einmal los. Da wäre es doch so viel einfacher, das Messer rauszuholen und den verdammten Kötern ...
Durchatmen, Mitte finden, neuer Versuch.
Niemand hat behauptet, es sei einfach, ein Pazifist zu sein.
Aber was ist das überhaupt, Pazifismus? Die Friedensbewegungen dieser Welt haben sich über die Frage in zahllose Richtungen aufgespalten: Für die einen ist Pazifismus ein Zustand der Gewaltlosigkeit, für die anderen ein Ziel, das auch mit Gewalt erreicht werden darf. Der linke Pazifist Franz Leschnitzer schrieb in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts über für ihn allzu friedfertige Mitstreiter: „Sie haben frische, tapfere Führer; aber das Gros der Geführten bilden Mucker und Memmen, die schuld daran sind, daß selbst kluge und eigentlich kriegsfeindliche Leute an der dummen Vorstellung kleben, echte Pazifisten müßten waschechte Waschlappen sein.“
Dem Mann hätte „Undertale“ gefallen, denn manche Gegner muss man verhauen, bis sie signalisieren, dass sie aufgeben wollen. Der Pazifismus in „Undertale“ ist aber zugleich radikal, denn nur wer wirklich niemanden tötet, der erlebt das beste aller möglichen Enden.
Daniel Schulz, 36, hat viele Rollenspiele gespielt und war dabei weder sonderlich friedfertig noch geduldig. Undertale hat ihm alles abverlangt