Im Mai 2006 traten Zehntausende Arbeitnehmer in einen Warnstreik. Die IG Metall in Baden-Württemberg setzte sich für einen neuen Tarifvertrag in der Metall- und Elektroindustrie ein. Am Ende erkämpften sie 4,1 Prozent Lohnerhöhung. Schön für die, die bei den Warnstreiks mitgemacht hatten. Noch schöner für die Arbeitnehmer, die weitergearbeitet hatten. Sie hatten Geld verdient und durften sich trotzdem auf eine Lohnerhöhung freuen.

Ist das unsolidarisch? Natürlich. Aber wie man sieht, ist es in gewisser Weise auch vernünftig. Schließlich profitiert man von der Mühe der anderen, ohne selbst Opfer zu bringen. Die Frage ist: Warum brechen dann nicht alle den Streik? Warum gibt es überhaupt so etwas wie Gewerkschaften? Mit der traditionellen Lehre der Wirtschaftswissenschaften kann man das nicht erklären. Sie gehen davon aus, dass jeder immer nur versucht, seinen persönlichen Nutzen zu vergrößern. Andere Motive gibt es nicht. Warum jemand zum Beispiel für die Dritte Welt spendet, kann man mit diesem Modell nicht erklären.

Einige Wirtschaftsforscher haben diese Lücke erkannt und arbeiten deshalb seit einigen Jahren daran, die alte durch eine neue Lehre zu ergänzen. Sie nennen sich Verhaltensökonomen. Dieser neue Zweig der Wirtschaftswissenschaften erforscht mithilfe der Gehirnforschung, der Evolutionsbiologie und anderer Wissenschaften, in welchen Situationen nicht nur auf den persönlichen Nutzen geachtet wird. Sie entdecken dabei Werte wie Fairness, Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit. Mit einem Begriff wie Solidarität haben Verhaltensökonomen aber Probleme. Nicht weil sie gegen Solidarität wären, sondern weil er sich nicht eindeutig bestimmen lässt. Von Solidarität reden die Ge-werkschaften, die für Lohnerhöhungen streiken. Man spricht aber auch von Solidarsyste-men wie den gesetzlichen Krankenkassen.

Der Münchner Wirtschaftsprofessor Klaus M. Schmidt, einer der bekanntesten Verhaltens-ökonomen, erklärt Solidarität so: „Ich würde das mit dem Prinzip der Wechselseitigkeit fassen. Wechselseitigkeit herrscht in einer Gruppe, in der man sich gegenseitig unterstützt und zusammenhält. Man hilft sich und hofft, dass die anderen einem auch helfen.“ Schmidt und andere Verhaltensökonomen haben in Versuchen durchgespielt, wann wechselseitiges Verhalten entsteht und wann nicht. Einer der Versuche geht so: Vier Teilnehmer spielen eine Art Gesellschaftsspiel, aber mit echtem Geld. Jeder erhält den gleichen Betrag – zum Beispiel 60 Euro – und kann dann entscheiden, ob und wie viel er in eine Gemeinschaftskasse steckt, die 50 Prozent Zinsen abwirft. Dann wird ihr Inhalt samt Zinsen unter allen Spielern aufgeteilt. Würden alle ihr gesamtes Guthaben in die Kasse stecken, würden alle 90 Euro erhalten. Tatsächlich zahlen die meisten Spieler nur einen Teil ihres Vermögens ein. Es gibt sogar einige, die so egoistisch sind, dass sie gar nichts zahlen. Diese Egoisten stehen am Ende der Runde besser als die anderen da, da sie einen Teil aus der Gemeinschaftskasse erhalten, obwohl sie nichts eingezahlt haben. Egoismus lohnt sich also – zumindest in diesem Spiel. Das lernen auch die anderen und zahlen in den folgenden Runden wenig oder nichts mehr in die Gemeinschaftskasse. Nach diesem Modell würden die Warnstreiks der IG Metall sofort in sich zusammenbrechen. So etwas wie Solidarität würde nie entstehen.

Das Ergebnis des Versuchs ändert sich aber, wenn man die Möglichkeit einbaut, sich gegenseitig zu bestrafen. Zum Beispiel mit dieser Regel: Gibt ein Spieler einen Euro ab, darf er einem anderen Spieler drei Euro abziehen. Bei einem Spiel mit einer solchen Regel zahlen auch Egoisten ein - denn wer weiterhin nichts oder wenig beiträgt, wird von den anderen bestraft. „Das ist verblüffend“, sagt Schmidt. „Diese Versuche zeigen, dass Menschen bereit sind, Geld wegzuwerfen, um Regeln durchzusetzen.“ Denn wer einen Euro abgibt, damit ein anderer Spieler drei Euro verliert, hat ja nichts gewonnen. Er tut es, weil er sich gut fühlt, wenn er einen Egoisten bestraft.

Wissenschaftler an der Universität Zürich haben herausgefunden, was dabei im Gehirn passiert. Sie haben die Gehirnströme der Spieler gemessen und festgestellt, dass bei Bestrafungen das Belohnungszentrum im Gehirn aktiv ist, das auch durch Sex oder Kokain stimuliert wird. Wer einen egoistischen Spieler bestraft, verspürt also eine ähnliche Lust wie beim Sex. Das führt dazu, dass sich das Prinzip der Wechselseitigkeit leichter durchsetzt. Aber daraus zu schließen, dass man Streikbrecher nur maßregeln muss, damit sie beim nächsten Mal mitmachen, wäre zu einfach. „Wir stecken mit unserer Forschung noch in den Anfängen”, sagt Schmidt.