Thema – Erinnern

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Therapie für die Nation

In der Kuomintang-Diktatur wurde Fred Chin inhaftiert und gefoltert. Taiwan hat diese Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet – und versucht deshalb, von deutscher Erinnerungspolitik zu lernen

Fred Chin

Fred Chin läuft aufrecht. Bis die türkis gestrichenen Wände enden und er vor einer großen Eisentür haltmacht, die Fred Chin fast verschluckt. Hier wartete er auf seinen Tod, hinter dieser Tür war er zwölf Jahre eingesperrt. Heute hat Fred Chin die Schlüssel.

Chin, 73, führt als Zeitzeuge durch das ehemalige Jingmei-Gefängnis in Neu-Taipei. Auf dem Bügel seiner Brille steht „Memory“, die Erinnerungen haben ihn nie losgelassen. Hier zwangen ihn Polizisten, Blut zu trinken. Hier hängten sie ihn kopfüber auf. „Sie folterten mich, bis ich gestand“, sagt Chin. „Ich habe versucht, mich umzubringen.“

Schließlich steht er in seiner alten Zelle. Ein Raum, in den das Tageslicht nur durch eine Klappe fällt, durch die ihm die Wärter Essen gereicht haben. Was hatte Fred Chin verbrochen, um hier zu landen?

Kuomintang? „Weißer Terror“? Ein Trauma? Das sehen nicht alle so in Taiwan

Mit 18 zog Chin von Malaysia nach Taiwan, um zu studieren. 1971 holte ihn die Geheimpolizei ab. Der Vorwurf: Chin sollte an einem Attentat auf ein amerikanisches Regierungsgebäude beteiligt gewesen sein. Eine absurde Vorstellung, sagt Chin heute. „Ich war jung und unpolitisch.“ Die herrschende Kuomintang (KMT) interessierte das nicht. Um die Bevölkerung gefügig zu machen, waren willkürliche Verfolgungen und Verhaftungen probate Mittel.

Ende der 1940er-Jahre hatte die nationalistische KMT den chinesischen Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten endgültig verloren. Millionen Anhänger flohen vom Festland auf die Insel Taiwan. KMT-General Chiang Kai-shek wurde zum Diktator, Taiwan zum Einparteienstaat – Chiangs Verständnis nach das wahre China. Den Taiwanern misstraute Chiang, er witterte überall Spione der Kommunisten. Als Teile der Bevölkerung revoltierten, schlug die KMT die Aufstände brutal nieder. Sie ermordete viele Mitglieder der damaligen taiwanischen Elite und legalisierte ihren „Weißen Terror“ durch das Kriegsrecht, das erst 38 Jahre später wieder aufgehoben wurde.

Als Fred Chin verhaftet wurde, herrschte der „Weiße Terror“ der KMT bereits seit mehr als 20 Jahren. Chin wurde von einem Militärgericht zum Tode verurteilt, ein paar Monate später milderte man die Strafe auf zwölf Jahre Haft.

„Weißer Terror“ wird von Konterrevolutionären ausgeübt. Die hatten (wie der Name schon verrät) historisch meist das Ziel, Revolutionen rückgängig zu machen. Da waren zum Beispiel Chiangs Nationalisten, die Maos Kommunisten wieder aus Festlandchina vertreiben wollten, oder die Bourbonen: Das ultraroyalistische Adelsgeschlecht konnte sich nie mit der Absetzung seiner Vertreter abfinden und gab dem „Weißen Terror“ seinen Namen: Ihre Flagge zeigte goldene Lilien auf weißem Grund.

„Wenn ich hierherkomme, geht es mir immer noch schlecht“, sagt Chin heute. Dabei ist es ein Erfolg, dass er noch ins ehemalige Jingmei-Gefängnis kommen kann. 2007 stand das Gebäude vor dem Abriss – den Chin und andere ehemalige Insassen verhinderten. Heute ist es ein Museum und eine Gedenkstätte für Menschenrechte. Warum nicht die Zivilgesellschaft, sondern die Opfer des Regimes dafür sorgen mussten, dass dieser historische Ort nicht einfach entsorgt wird? Er erinnert an Gräuel, die viele Taiwaner lieber vergessen würden, meint Chin. „Als wir für den Erhalt des Gefängnisses demonstrierten, hat man uns vorgeworfen, wir würden nur die KMT schlechtreden.“ Er als Opfer könne nichts sagen, ohne instrumentalisiert zu werden.

„Für viele Taiwaner ist es ein politischer Akt, über den ‚Weißen Terror‘ zu sprechen“, bestätigt Vladimir Stolojan-Filipesco. Der Soziologe forscht zur Erinnerungspolitik in Taiwan. Bis heute, sagt er, werden die Taten des KMT-Regimes nicht von der ganzen Bevölkerung als historisches Unrecht anerkannt. Chiang Kai-shek sei für manche bis heute ein Held. Unlängst gewann einer seiner angeblichen Urenkel, Chiang Wan-an, für die oppositionelle KMT die Kommunalwahl in der Hauptstadt Taipei (woraufhin Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen den Vorsitz der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) aufgab). Chiang betont stets, wie stolz er auf die Geschichte seiner Familie ist. Problematischer als diese Verklärung findet Stolojan-Filipesco, dass viele Taiwaner von ihrer Partei abhängig machen wie sie den „Weißen Terror“ bewerten. Kurz: Wer zur KMT gehört, schweigt oder tut, als sei alles nicht so schlimm gewesen; das DPP-Lager verlangt da Aufklärung, wo es die KMT diskreditieren kann.

Die Aufarbeitung berührt auch Taiwans Verhältnis zu China

Dabei gilt Taiwan heute als Vorzeigedemokratie. Taiwan – das formell noch zu China gehört und von den meisten Ländern, auch Deutschland, nicht als eigener Staat anerkannt wird – wird seit 2016 von einer Präsidentin geführt. Es legalisierte als erstes Land in Asien die gleichgeschlechtliche Ehe, gilt als weit voraus, was Digitalisierung und Gesundheitsversorgung angeht. Genau in diesem beispielhaften Weg sieht Stolojan-Filipesco einen Grund, warum sich Taiwan schwertut mit der Aufarbeitung: Das Land hat sich schrittweise demokratisiert, dabei aber nie so klar mit dem alten Regime gebrochen, wie es beispielsweise das von Alliierten organisierte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hat. Als 1987 das Kriegsrecht in Taiwan aufgehoben wurde, nannte sich die KMT demokratisch – und saß fortan mit an den Verhandlungstischen. Ihr gegenüber: die gerade gegründete DPP.

Die Frage, ob man es mit der DPP oder der KMT hält, spaltet die taiwanische Gesellschaft heute wie vielleicht nur eine andere Frage: Mehr Distanz zu China oder nicht? Entlang dieser beiden Grundfragen bilden sich oft Lager, die Kompromisse in anderen Debatten erschweren. Ob es nun um soziale Ungleichheit, den Schutz Indigener Gemeinschaften oder eben die Übergangsjustiz geht, wie die Aufarbeitung der Diktatur in Taiwan seit den 1990er-Jahren offiziell heißt.

DPP und KMT einigten sich damals darauf, dass die Opfer des „Weißen Terrors“ entschädigt, die Täter dafür nicht bestraft werden sollen. Der Kompromiss ist umstritten, bis heute. „Ich würde gerne die Staatsanwälte von damals kennenlernen und sie fragen, ob sie Mitleid mit uns hatten“, sagt Chin. Auch der Soziologe Stolojan-Filipesco hätte es wichtig gefunden, die Täter zu verurteilen. „Das hätte einen moralischen Standard gesetzt.“ Eine solche Orientierung fehle bis heute. Auch weil Taiwan nie eine soziale Bewegung wie die deutschen Achtundsechziger erlebt hat, die sich ihrerzeit mit den NS-Opfern solidarisierten und vollständige Aufarbeitung forderten. An die Jahre der Diktatur zu erinnern, den Opfern zuzuhören, das alles ist nicht selbstverständlich in Taiwan. Der „Weiße Terror“ ist nicht Teil des „kollektiven Gedächtnisses“, wie es die Kulturwissenschaft nennt.

Kann Taiwan von der deutschen Erinnerungspolitik lernen?

Taiwan nimmt sich deshalb an Deutschland ein erinnerungspolitisches Vorbild. 2018 lud das Kulturministerium den Stasi-Unterlagenbeauftragten Roland Jahn nach Taipei, um über den Umgang mit Akten der Diktatur zu sprechen. Solche Dokumente sind in Deutschland in der Regel öffentlich zugänglich. Und auch bei anderen Erinnerungsartefakten ist viel erreicht worden: Die Gräuel der Nazis etwa sind verpflichtender Schulstoff, Ereignissen wie der Pogromnacht oder der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird öffentlich gedacht, historische Stätten werden als Orte des Gedenkens und der politischen Bildung erhalten.

„An solchen symbolischen Handlungen mangelt es Taiwans Übergangsjustiz“, sagt Stolojan-Filipesco. Es reiche nicht, den Opfern Geld zu zahlen, ein Land brauche Rituale, um sein historisches Gewissen auszudrücken. Und mehr politische Bildung an den Schulen. Der Besuch von Erinnerungsstätten beispielsweise sei für Schüler in Taiwan nicht verpflichtend. Das gilt zwar auch für Deutschland, aber aus anderen Gründen, sagt Stolojan-Filipesco. „Viele Eltern in Taiwan würden solche Pflichtbesuche nicht tolerieren, weil sie in der Schule gar keine politischen Diskussionen wollen.“



 

Das Beispiel zeige, wie schwer Erinnerungspolitik zu kopieren ist, sagt Stolojan-Filipesco. Erinnern funktioniert je nach historischem und kulturellem Kontext anders. Auch in Deutschland ist Vergangenheitsbewältigung kein festes Programm, sondern ein Prozess. Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wollte zuletzt rund die Hälfte der Befragten einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit setzen. Das sind zehn Prozent weniger als noch 1991, und durch die Debatten um die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern oder das mit Zwangsarbeit erwirtschaftete Vermögen von Familienunternehmen wie Bahlsen wurde zuletzt viel über Aufarbeitung diskutiert. Aber wie die deutsche Erinnerungspolitik auf die vielen Erinnerungsmüden reagieren kann und dabei auch die nicht vergisst, die jung sind oder deren Familien nicht aus Deutschland kommen, ist immer wieder Thema. Das werde in Taiwan oft übersehen, sagt Stolojan-Filipesco.

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Als 2016 Tsai Ing-wen Präsidentin wurde, hatten zum ersten Mal die Demokraten die Mehrheit im Parlament – und viele die Hoffnung, dass die Regierung eine Erinnerungskultur etabliert. Die DPP gründete eine Kommission für Übergangsjustiz. Sie erwirkte, dass die KMT ihre Archive öffnen muss, also jedes Opfer seine Akte einsehen kann. Das war 2018 – und blieb der größte Erfolg der Behörde: Wenige Monate später wurde bekannt, dass ehemalige Spione von Chiang Kai-sheks Regime heute Mitglieder der DPP sind. „Seitdem ist die DPP vorsichtig mit Anliegen der Übergangsjustiz. Sie gewinnt da keine Wähler“, sagt Stolojan-Filipesco. Dabei reichen Fragen der Erinnerungspolitik tief in die Klientel der DPP. Eine ambitionierte Aufklärung wäre auch eine Abgrenzung von der Volksrepublik China, die jede Form der kollektiven Erinnerung unterbindet. Über das Tian’anmen-Massaker von 1989 etwa darf in China niemand öffentlich sprechen.

In Taiwan fühlen sich noch immer die Opfer verantwortlich für die Aufarbeitung. Viele, die Stolojan-Filipesco interviewt hat, kämpfen bis heute um rechtliche Anerkennung. Und mit der gesellschaftlichen Isolierung, durch die viele zum zweiten Mal zu Opfern werden.

Fred Chin wurde 1983 aus dem Gefängnis entlassen. Er kehrte nicht nach Malaysia zurück. Die Regierung habe seinen Pass einbehalten, sagt Chin, im Ausland sollte niemand wissen, was ihm widerfahren ist. Ausgepackt hätte Fred Chin wohl auch mit Pass nicht. Erst 2007, als das Jingmei-Gefängnis zu einer Gedenkstätte wurde, entschloss er sich, öffentlich zu erzählen, worüber er mehr als 20 Jahre lang nur mit seiner Frau gesprochen hatte. „Davor ging es einfach nicht“, sagt Fred Chin. Man wisse nie, wie der Zuhörer politisch tickt.

Titelbild: Helen Davidson / Guardian / eyevine / laif

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