Wo er wohl letztes Wochenende gewesen wäre, als in Hamburg gegen die Regierungen der G20 protestiert wurde? Vielleicht ja beim Cornern. Diese relativ neue Protestform, die auf das Demonstrationsrecht aufmerksam macht und dessen Verbot spielerisch unterwandert, hätte einem wie ihm, der sich nur ungern was sagen ließ, bestimmt gefallen. Vielleicht hätte er sich auch mit grauem Lehm angemalt, wie das Künstler für die Performance „1.000 Gestalten“ getan haben. Immerhin scherte er sich wenig um das, was andere von ihm dachten. Die Ausschreitungen hingegen hätte er wohl verurteilt. Er hielt Vorträge gegen den Krieg, nahm aber militante Sklavereigegner in Schutz. Henry David Thoreau, der vor 200 Jahren geboren wurde, gilt als ein Begründer der modernen und gewaltfreien Protestkultur.
Thoreaus Essay wurde zur Pflichtlektüre für Rebellen aller Welt
Die Ideen des Freigeists und Unruhestifters wirken bis heute. Vor allem eine: die des zivilen Ungehorsams. Die formulierte der amerikanische Philosoph und Schriftsteller im Nachgang zu einer unruhigen Nacht, die er im Juli 1846 im Gefängnis von Concorde in Massachusetts verbracht hatte, weil er sich weigerte, seine Kopfsteuer zu zahlen. Damit wollte er gegen den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg protestieren, den er für imperialistisch hielt, und gegen die Haltung der US-Regierung zur Sklaverei, die in den Südstaaten noch erlaubt war.
Für Thoreau, der sich am liebsten etwas abseits der Gesellschaft in seiner Blockhütte am Waldrand aufhielt, war das eine Frage des Gewissens. Auch wenn eine Regierung von der Mehrheit gewählt wurde, sei sie fehlbar und berge den Missbrauch der Macht in sich, so sein Ausgangsgedanke, den er in dem Aufsatz „Resistance to Civil Government“ ausführte. Deshalb habe der Einzelne in moralischen Fragen die Pflicht, die Verantwortung nicht einfach an die Regierung abzutreten: „Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint.“
„Ziviler Ungehorsam“ inspirierte Leo Tolstoi zu wortgewaltiger Kritik…
Die Argumentation hat ihre rechtsphilosophischen Schwächen: Wie etwa soll man erkennen, ob das Gewissen „richtigliegt“? Immerhin gibt es ja viele Auffassungen von Gerechtigkeit? Wo hört gerechtfertigter Widerstand auf, und wo fängt bodenlose Anarchie an? Dem Erfolg des Aufsatzes tat das keinen Abbruch. Wirklich berühmt wurde der allerdings erst nach Thoreaus Tod im Jahr 1862. Dabei hat auch ein in Vergessenheit geratener Verleger eine wichtige Rolle gespielt. In einer Anthologie mit politischen Aufsätzen erschien der Essay 1866 unter dem Titel „Civil Disobedience“: ziviler Ungehorsam. Wohl auch wegen des griffigeren Slogans, vermutet der Thoreau-Biograf Frank Schäfer, fand der Aufsatz viele Leser auf der ganzen Welt – darunter auch viele echte Rebellen.
Leo Tolstoi (1828–1910) etwa. Der russische Schriftsteller und Adlige war ein wortgewaltiger Kritiker des Zarenreichs. Das erste Mal, dass er einen Ungehorsam ausübte, war, als er sich weigerte, als ehrenamtlicher Richter an einem Strafverfahren gegen Bauern teilzunehmen. Da die innerhalb seines Gutsbezirks lebten, wäre dies seine Pflicht gewesen.
… bekräftigte Mahatma Gandhi in seiner Idee des passiven Widerstands…
Tolstoi war wiederum für Mahatma Gandhi (1869–1948) eine prägende Gestalt. Die beiden unterhielten einen ausführlichen Briefwechsel kurz vor Tolstois Tod. Gandhi las Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ in Südafrika, wo er mit kurzen Unterbrechungen zwischen 1893 und 1914 als Rechtsanwalt arbeitete. Hier entwickelte er die Satyagraha – seine Idee des passiven Widerstands. Mit Kampagnen wie dem berühmten Salzmarsch (1930) zwang er die britische Kolonialregierung in die Knie. Mit knapp 80 Anhängern zog Gandhi von der Stadt Ahmedabad nach Dandi ans rund 380 Kilometer entfernte Arabische Meer, um dort einige Körner Salz aufzuheben. Damit brach er symbolisch das Monopol der Kolonialregierung, das die Herstellung, den Transport und den Verkauf von Salz hoch besteuerte. Der Marsch löste eine Welle zivilen Ungehorsams aus, während der an die 50.000 Inder verhaftet wurden. Ein Schlüsselmoment zur Unabhängigkeit Indiens.
Gandhis Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft war eine wichtige Inspiration für Nelson Mandela, der gegen die Apartheid in Südafrika agitierte. Die Maßnahmen, die der African National Congress (ANC) ab den frühen 1950er-Jahren ergriff, waren von der Idee des zivilen Ungehorsams geprägt. So benutzten schwarze Aktivisten Toiletten, Zugabteile, Wartezimmer und Eingangstüren, die im segregierten Südafrika eigentlich nur Weißen vorbehalten waren. Damit wehrte sich der ANC gegen immer neue Repressionen seitens der weißen Minderheitenregierung, die seit 1947 die Rechte der Schwarzen immer weiter einschränkte und einen erbarmungslosen Polizeistaat aufbaute.
…und fand im Busboykott von Montgomery eine zu Recht weltberühmte Umsetzung
Als Nelson Mandela auf Robben Island, einer windumtosten Gefängnisinsel vor Kapstadt, in Einzelhaft kam, war in den USA die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung voll im Gange. In Martin Luther King hatte sie eine wortmächtige Führungsgestalt. Und auch der hatte seinen Thoreau gelesen. Keine andere Person hätte die Idee des Ungehorsams eloquenter und leidenschaftlicher rübergebracht als Thoreau, schrieb King in seiner Autobiografie.
Ein Auslöser für Kings Bürgerrechtskampagne war ein längst berühmter Akt des zivilen Ungehorsams. Den unternahm Rosa Parks im Jahr 1955. Die gut vernetzte Schneiderin weigerte sich, einen Platz im Bus frei zu machen, der für Weiße reserviert war. King nahm Parks Verurteilung zum Anlass, mit dem Montgomery Bus Boycott eine gewaltfreie Widerstandsaktion zu starten, die eine Initialzündung der Bürgerrechtsbewegung werden sollte.
Und heute? Die Idee des zivilen Ungehorsams wird immer noch viel diskutiert und auch immer wieder in die Praxis umgesetzt. Etwa durch Attac und die Occupy-Bewegung. Im Mai 2012 sorgte bereits die Ankündigung von Blockaden der Europäischen Zentralbank (EZB) aus Protest gegen die europäische Krisenpolitik dafür, dass das Frankfurter Bankenviertel weitgehend lahmgelegt war. Im selben Jahr – wie auch schon 2010 und 2011 – stoppten Aktivisten in Dresden den bis dahin europaweit größten Neonazi-Aufmarsch. Auch vor dem G20-Gipfel gab es zahlreiche Aufrufe zum zivilen Ungehorsam. Ein Straßenfest wie das „Hedonistische Massencornern“ am 4. Juli kann man dazuzählen – auch wenn es vielen da vielleicht nur um ein Feierabendbier ging.
Illustration: Jan Q. Maschinski