Marianne Tharan kämpft für Ungarn. Regelmäßig versendet sie empörte Mails an deutsche Journalisten. Sie schreibt an gegen die Berichterstattung über ihr Land, die sie als üble Schmähkampagne einer linken und liberalen Verschwörung versteht. Ungarn, so Frau Tharan, sei das letzte christlich-konservative Bollwerk gegen den heraufziehenden Sozialismus.
Es ist nicht sicher, ob es Marianne Tharan wirklich gibt. Sie könnte auch eine Erfindung der Propagandaabteilung des rechtskonservativen Regierungschefs Viktor Orbán sein, der das Land seit drei Jahren mit einer Tyrannei der Mehrheit regiert. Seine Partei Fidesz fühlt sich durch die Zwei-Drittel-Mehrheit der Sitze im Parlament legitimiert, das Land nach ihren Vorstellungen umzukrempeln. Mehr als 200 neue Gesetze wurden im Eiltempo innerhalb eines Jahres verabschiedet. Die neue ungarische Verfassung wurde bereits viermal geändert und sei inzwischen nichts anderes als eine „Deponie verfassungswidriger Regeln“, wie sich der ungarische Jurist Csaba György beklagt.
Kritik am Regierungskurs wird toleriert – aber nicht in den öffentlich-rechtlichen Medien. Zeitungen, die Orbán kritisieren, erhalten keine Anzeigen mehr von Staatskonzernen oder Unternehmen, die sich staatliche Aufträge erhoffen. Oppositionelle Versammlungen dürfen natürlich noch stattfinden, aber oftmals nicht mehr auf zentralen Plätzen. Die Opposition kann sich frei bewegen, solange sie keine echte Herausforderung für Orbán darstellt – was sie ein Jahr vor den nächsten Wahlen tatsächlich auch nicht ist.
Nach der Methode „Zwei Schritte vorwärts, einer zurück“ lenkt Orbán regelmäßig ein, wenn der Druck aus der EU zu groß wird. Außerdem hat er sich einen speziellen Mechanismus ausgedacht, um den Zorn seiner Landsleute auf Brüssel zu lenken. Sollte es der EU einfallen, Geldstrafen wegen Vertragsverletzungen zu verhängen, werden unverzüglich Sondersteuern erhoben, um sie zu bezahlen. Die Ungarn würden so gleich zweimal bestraft, kritisierte Justizkommissarin Viviane Reding: Erst dürften sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen, und am Ende müssten sie auch noch dafür bezahlen.
Inzwischen scheinen einige europäische Länder die Gefahr erkannt zu haben. Tausende Politiker und Beamte würden für den Binnenmarkt kämpfen, nur wenige für die demokratischen Grundwerte, kritisiert der niederländische Außenminister Frans Timmermans. Gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Deutschland, Dänemark und Finnland regte er einen Mechanismus zur Überwachung der in der EU notwendigen demokratischen Standards an. Der Problemfall Ungarn wurde nicht benannt. Aber genau der war gemeint.