Tocotronic haben der deutschen Sprache mehr Impulse gegeben als das komplette Genre des Hip Hop, obwohl Rapper traditionell wesentlich mehr Worte machen. „Herzlichkeit ist keine Schande“? Tocotronic. „Digital ist besser“? Tocotronic. „Wir kommen um uns zu beschweren“? Tocotronic. „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“? Tocotronic. „Aber hier leben, nein danke“? Tocotronic. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“? Tocotronic, an denen man nicht vorbeikommt.
Auch das aktuelle und namenlose elfte Album, seiner Farbe wegen einfach „das Rote“ betitelt, liefert mindestens einen weiteren Slogan: „Liebe wird das Ereignis sein“, weil Liebe genau das immer ist. Ein Ereignis ist auch das Rote Album, weil Tocotronic musikalisch wie inhaltlich selten so leichthändig und luftig sein durften. Dabei sind sie vor mehr als 20 Jahren selbst aus einer musikalischen Jugendbewegung hervorgegangen, die eben alles andere als poppige Liebeslieder im Sinn hatte. Was ist da passiert?
Die ersten Aufnahmen der Studenten Dirk von Lowtzow (Gesang, Gitarre), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) haben den rauen Charme des Selbstgemachten und werden auf Kassette vertrieben. Zugleich gehen die ersten Konzerte nicht irgendwo, sondern in der Hamburger Roten Flora und damit in einem Zentrum des linksradikalen Widerstands über die Bühne. Die Musiker tragen Trainingsjacken, Cordhosen und pflegen auch sonst eine Schluffigkeit, die man damals so nicht kannte.
Es ist eine speziell deutsche Antwort auf den Grunge, der damals – von Seattle aus – mit betont unprätentiösem Habitus den alternativen Rock auf den Kopf gestellt hatte. Gruppen wie Nirvana standen dabei für ein punkiges „Do it yourself“, das sich um Tugenden wie Virtuosität ebenso wenig kümmerte wie um schillernde Oberflächen. Schon die erste „richtige“ CD mit dem Titel „Digital ist besser“ macht Tocotronic 1995 zum Gravitationszentrum der deutschen Szene. Ihre Konzerte sind ausgebucht, ihre ebenso griffigen wie rätselhaften Songtexte finden als Graffiti den Weg an Betonwände, ihre Mode greift stilbildend um sich. Auch das Feuilleton wird aufmerksam.
Bei der „taz“ in Berlin prägt der Journalist Thomas Groß für diese „thinking man’s music“ den Begriff „Hamburger Schule“ – in schmunzelnder Anlehnung an die berühmte „Frankfurter Schule“ der Philosophie. Dazu gehört auch ein spielerisches Unterwandern von Klischees, mit denen bis dahin im Pop operiert wurde. Anstatt beispielsweise über Sex zu singen, singt Dirk von Lowtzow: „Über Sex kann man nur auf Englisch singen“.
Wichtiger noch als die Musik oder der Text ist der Band die Summe aus beiden: die Haltung. 1996 sollen Tocotronic vom damals enorm einflussreichen Musiksender Viva mit dem „Comet“-Preis für Nachwuchskünstler („Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“) ausgezeichnet werden. Mit der bandtypischen Höflichkeit weisen von Lowtzow, Zank und Müller die Ehrung zurück: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein“.
In den Nullerjahren haben Tocotronic endgültig ihre Reiseflughöhe und damit auch eine gewisse Deutungshoheit erreicht. Musikalisch streben sie in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Moses Schneider nach mehr Wärme, mehr Breite. Inhaltlich werden da ihre Platten von einer interessierten Öffentlichkeit längst schon als Diagnosen der Zeit gelesen. Als „Diskursrock“ wurde das Genre gerne bezeichnet, weil anstelle eindeutiger Aussagen eben das dialogische Umherschweifen tritt, ein Ungefähres und der Mut zur Leerstelle im Text. Die Journalistin Kirsten Riesselmann resümiert 2005, nachdem sie „Pure Vernunft darf niemals siegen“ gehört hat: „Die trotzige Hamburger Schule ist zu einem Graduiertenkolleg geworden, Fachrichtung: ‚Schönheit, Gitarren und Selbstverlust‘.“
Das gilt auch für das Rote Album. Liebe handelt immer von Schönheit und Selbstverlust, nur die verstärkten Gitarren sind zugunsten synthetischerer Klänge weit in den Hintergrund getreten. Mit dem zusätzlichen Produzenten Markus Ganter (Casper, Dagobert) schaffen Tocotronic tatsächlich den Anschluss an etwas, das sie selbst inzwischen ein „jüngeres Publikum“ nennen. Eine Anbiederung aber findet noch immer nicht statt. In seinen Texten bleibt Dirk von Lowtzow sich treu: „Die Liebe“, sagt der Sänger im Interview, „ist das Politischste, was es überhaupt gibt.“
Wie lassen sich bei einem solchen Allerweltsthema die Klippen der Klischees umschiffen? Indem man tieferes Wasser ansteuert und unter die Oberfläche geht, dorthin, wo keine gängigen Metaphern mehr Halt geben: „Die Wörter fliegen hoch / Eine Litanei“, singt Dirk von Lowtzow. Es werden keine Geschichten über die Liebe erzählt, die Liebe selbst wird in ihre Facetten aufgelöst und mit einer suchenden, tastenden und dabei zärtlichen Sprache beleuchtet. Es geht um Geschlechterrollen, das Klammern, Verlust, Distanz und Ekstase. Es geht sogar um Sex, über den man durchaus auf Deutsch singen kann. Manchmal bewahrt einfach banale Höflichkeit vor einem Abgleiten in peinliche Schlüpfrigkeiten: „Unter deiner Decke / Ein freundlicher Empfang“.
Was also passiert sein könnte? Tocotronic sind nicht zu den „Erwachsenen“ geworden, die in einem neuen Song besungen werden, im Gegenteil. Sie suchen noch und machen es sich nicht leicht. Gedankenschwere kann eine Bürde sein. Tocotronic tragen sie wie eine Krone.