Wer vor nicht mal 20 Jahren in das Fischerdorf Suape im Nordosten Brasiliens fahren wollte, holperte die zehn Kilometer aus dem Zentrum der Kreisstadt Cabo de Santo Agostinho auf einer Lkw-Ladefläche mit improvisierten Holzbänken über unbefestigte Lehmstraßen. In Suape gab es einen feinsandigen weißen Strand, eine Handvoll niedriger Fischerhütten und einen Kramladen, der alles anbot, was ein Fischerhaushalt braucht: von Reis, Bohnen und Kaffee bis zu Angelhaken, Nylonschnur, Besen und Gummiband. „Ich musste manchmal mehrmals die Woche die Preise erhöhen, um mit der Inflation standzuhalten“, erinnert sich der Ladenbesitzer. Das einzige Auto im Ort war der Krankenwagen, der meist kaputt war.

Nach Jahren der Hyperinflation, während der teils neue Werte auf alte Scheine gestempelt wurden, weil so schnell keine neuen gedruckt werden konnten, führte der damalige Finanzminister und spätere Präsident Fernando Henrique Cardoso den Real ein. Der „Reelle“, wie die Währung übersetzt heißt, war genauso viel wert wie der US-Dollar – und das garantierte die Zentralbank. Damit begann die Geschichte der wirtschaftlichen Stabilität Brasiliens. Cardoso gelang es, Monopole abzuschaffen, staatliche Unternehmen zu privatisieren und das Land mit seinen rund 195 Millionen Einwohnern für ausländisches Kapital zu öffnen.

Cardosos Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva hatte ab 2003 dessen Wirtschaftspolitik fortgeführt und die Sozialprogramme deutlich ausgeweitet. Um die Schulden beim IWF abzuzahlen, erhöhte Lula unter anderem mehrere Steuern und erlaubte den Anbau von genmanipuliertem Soja. Nachdem der Kredit noch vor Fristablauf abbezahlt war, fassten ausländische Investoren mehr Vertrauen. Durch deren Kapital ließen sich groß angelegte Wirtschaftsförderungsprogramme finanzieren. Ehemals einkommensschwache Bevölkerungsschichten wurden durch Sozialhilfen und vereinfachte Kreditbedingungen zu Konsumenten. Der gesetzliche Mindestlohn stieg in zehn Jahren von umgerechnet 76 Euro pro Monat auf mehr als 220 Euro, das Pro-Kopf-Einkommen ist um 27 Prozent gestiegen. Noch nie waren in Brasilien so wenige Menschen arbeitslos. 2010, gerade mal ein Jahr nach der globalen Wirtschaftskrise, wuchs Brasiliens Bruttoinlandsprodukt (BIP) um mehr als sieben Prozent, im selben Jahr wurden hier erstmals mehr Pkw verkauft als in Deutschland. Chinas wachsende Nachfrage nach Nahrungsmitteln sowie der Rohstoffreichtum Brasiliens scheinen weitere Garanten für das Wachstum zu sein. Die Industrialisierung schreitet fort, Großereignisse wie die WM 2014 und die Olympischen Sommerspiele im Jahr 2016 sind Anlass für Neuerungen und Investitionen in Infrastruktur wie Straßenbau und Hotels. Und dann wurden vor Brasiliens Küste auch noch riesige Ölfelder entdeckt, die Hoffnungen auf eine nahe Zukunft in Reichtum schürten.

Kritiker sehen die Lage anders. Die Grünen-Politikerin und ehemalige Umweltministerin Marina Silva etwa kritisiert das Wirtschaftsförderungsprogramm als kurzsichtig, sozial- und umweltfeindlich. Tatsächlich sind besonders gigantische Projekte wie der Staudamm Belo Monte stark umstritten. Inzwischen stagniert Brasiliens Boom, für 2012 erwarten Wirtschaftswissenschaftler mäßige zwei Prozent Wachstum. Lula-Nachfolgerin Dilma Rousseff hat zwar eilig Steuern auf Konsumgüter wie Autos – aus brasilianischer Produktion – gesenkt und das Sozialprogramm nochmals erweitert, um den Privatkonsum zu steigern, der seit acht Jahren ununterbrochen wächst. Doch Kritiker sprechen von „Assistenzialismus“, weil Brasilien zu wenig in Bildung investiere, gleichzeitig aber 50 Millionen Familien Geld aus einem der weltweit größten Sozialprogramme, Bolsa Familia, oder andere staatliche Zuwendungen zahlt. Die bekommt zwar nur, wer seine Kinder regelmäßig zur Schule schickt, die Effizienz der Bildungseinrichtungen ist allerdings begrenzt: In der letzten Pisa-Studie belegten Brasiliens Schüler in Lesen und Naturwissenschaften einen hinteren Platz, in Mathe sah es noch schlechter aus.

Mangelnde Bildung und Korruption sind die größten Hürden auf dem Weg zu einem dauerhaften Wachstum: In diesen Wochen werden führende Politiker aus Lula da Silvas Amtszeit wegen eines der größten Korruptionsskandale verurteilt. In der Kreisstadt Cabo de Santo Agostinho, zu der Suape gehört, erhalten von 180.000 Einwohnern zurzeit mehr als 17.000 Familien Staatshilfe, weitere 13.000 Familien haben ihren Antrag eingereicht. Dabei gibt es auch in Cabo den Aufschwung: Fuhren noch vor zehn Jahren reichlich Pferdekarren durch die landwirtschaftlich geprägte Stadt, so drängen sich heute Autos, Busse und Lkw in den zu eng gewordenen Straßen. Mehr als 2.500 Unternehmen beschäftigen im Stadtgebiet über 30.000 Menschen, die wichtigsten Supermarktketten und Banken haben Filialen aufgemacht, und neuerdings gibt es sogar ein Einkaufszentrum.

Immer noch gibt es Korruption

„Die neuen Firmen haben Geld gebracht und damit das städtische Budget aufgebessert“, sagt Lytiene Rodrigues, die städtische Referentin für wirtschaftliche Entwicklung in Cabo. „Aber andererseits rufen sie Fachkräfte aus anderen Bundesstaaten, weil hier die Leute nicht gut genug ausgebildet seien. Mit diesen Fremdarbeitern ist bei uns der Drogenmissbrauch stark gestiegen, und viele gründen hier neue Familien, obwohl sie in ihren Heimatstädten verheiratet sind.“

Insgesamt sei aber vieles besser geworden: Tatsächlich lag das Pro-Kopf-Einkommen 2010 mit umgerechnet beinahe 8.500 Euro gut ein Drittel über dem Landesdurchschnitt. Kein Vergleich zum Jahr 2000, als der Jahresdurchschnitt noch skandalöse 50 Euro betrug. Die Kindersterblichkeit ist von 40 Prozent auf unter 15 Prozent gesunken. Heute versorgen 470 Ärzte die Bevölkerung – statt 37 im Jahr 2004, und das Programm der Bundesregierung zur Ankurbelung der Wirtschaft ist komplett umgesetzt, eine Seltenheit in Brasiliens Gemeinden, wo die Bundesgelder häufig ergebnislos versickern. „Besonders stark ist der Unterschied in den Strandvierteln zu sehen, da gab es ja noch vor wenigen Jahren nur Sandwege“, sagt Lytiene Rodrigues. Tatsächlich: Die Hauptstraße von Suape ist jetzt asphaltiert. Am Horizont leuchten die Zeichen der neuen Zeit rot in den Himmel; die Kräne der Werft Atlantico Sul, das Wahrzeichen des neuen Industriehafens. Dessen Entwicklung haben Investitionen der Regierung ins Rollen gebracht. Der Hafen hat bislang rund 35.000 Arbeitsplätze und einen bescheidenen Wohlstand in der Gegend geschaffen. An Suapes Hauptstraße parken Neuwagen, und nur vereinzelt duckt sich noch ein ebenerdiges Fischerhaus neben den stolzen Neubauten mit mindestens einem Obergeschoss. Gleich zwei Supermärkte machen dem alten Ladenbesitzer Konkurrenz, und am frühen Abend stehen die Kunden in beiden an der Kasse Schlange. Die meisten tragen einen Blaumann mit Firmennamen: Sie sind im Hafen beschäftigt. Der alteingesessene Besitzer hat sich auf die Fremden eingestellt und Waren in sein Angebot aufgenommen, die die Dorfbevölkerung nie gebraucht hat, „Extra vergine“-Olivenöl etwa, Vollkornkekse oder Schokoladentafeln.

João Batista Neto, Besitzer der einzigen Pension im Dorf, profitiert ebenfalls von den Zugezogenen: „Ich mache jetzt im Monat so viel Umsatz wie früher in einem Jahr“, sagt der 52-Jährige. „Ich habe mir einen Jeep geleistet und dem Wunsch meiner Frau nachgegeben, die in der benachbarten Großstadt im schicken Viertel Boa Viagem wohnen wollte.“ Er streicht zufrieden über seinen Bauch und setzt hinzu: „Der ist auch gewachsen!“ Batista beherbergt jetzt statt vereinzelter Urlauber die Belegschaften von Firmen, maximal 150 Männer. Zurzeit baut er ein Obergeschoss auf die Unterkünfte, um bald noch mehr Arbeiter unterbringen zu können.

João Batista gehörte als Ingenieur aus besserer Familie bereits vor dem Boom zur brasilianischen Mittelklasse. Anders Ana Carla Domingos. Die 28-jährige gelernte Friseurin stammt aus einem einfachen Wohnviertel in Recife und arbeitete bis vor zwei Jahren in einem Laden für Sonderangebote. „Dort habe ich etwas mehr als den Mindestlohn verdient“, sagt sie. Kolleginnen aus Suape redeten ihr zu, einen Friseursalon aufzumachen. Ana Carla mochte den kleinen Ort am Strand und sah sich bei Besuchen Mietwohnungen an, bis sie eine günstige an der Hauptstraße fand. „Der Erfolg war mir sicher, es gab hier keinen Salon, ich musste nur Geduld haben und ordentlich arbeiten“, sagt die schlanke Frau mit dem gewinnenden Lächeln. Das Lächeln hat sie gebraucht: „Anfangs haben mich viele schräg von der Seite angesehen, mich nicht einmal gegrüßt – ich musste eine Menge Misstrauen überwinden.“

Plötzlich haben sie eine Kreditkarte

Inzwischen hat Ana Carla eine weitere Friseurin und eine Nagelstylistin angestellt und lebt gut von ihrem Salon. „Ich habe neulich eine Reise nach Bahia gemacht – das hätte ich mir früher nie leisten können. Wir bauen gerade unser Haus, und nächstes Jahr will ich mir ein Auto kaufen.“ Die Dorfmentalität findet sie immer noch gewöhnungsbedürftig. „Den Leuten geht es jetzt zwar finanziell besser, sie haben Autos, schicken die Kinder auf eine bessere Schule – aber die Köpfe haben diese Entwicklung nicht mitgemacht“, sagt sie. „Das Denken ist sehr beengt. Zum Beispiel wollen sie Geld durch Mieteinnahmen verdienen – aber gleichzeitig die Kontrolle über ihren Besitz nicht aufgeben. Einer Freundin von mir hat die Vermieterin eine Riesenszene gemacht, weil sie zu Weihnachten Besuch von ihrer Familie bekam. Das waren der Vermieterin zu viele Leute.“ Andere versuchten, im Salon die Preise herunterzuhandeln, oder kämen nur zum Schneiden und Föhnen, weil ihnen die Haarpflegeprogramme zu teuer seien.

Maria Auxiliadora do Nascimento ist 39 Jahre alt und war noch nie beim Friseur. Ihre Haare schneidet eine Freundin. Maria wohnt auf einem Hügel in einem Haus aus Lehm, vielleicht 30 Quadratmeter groß. Davon nutzt Maria die Hälfte – in der anderen wohnt ihr Sohn mit seiner Frau und dem Enkel. Maria und ihr Mann Severino sind Analphabeten, bis vor einem Jahr haben sie von Gelegenheitsjobs und staatlichen Hilfen gelebt. Jetzt haben sie eine Kreditkarte: Im Garten steht eine Waschmaschine, in einem kleinen Schuppen ein kleines Moped – beides auf Kredit gekauft. Die beiden gehören zur neuen Mittelklasse Brasiliens, von der Politiker gern sprechen. Severino verdient bei der Müllabfuhr rund 300 Euro, Maria kommt als Gelegenheits- Haushaltshilfe auf weitere 70 Euro. Die Rechengrundlage der Regierung besagt: Stehen in einem Haushalt jedem Mitglied umgerechnet mindestens 111 Euro zur Verfügung, hat er die untere Mittelschicht erreicht. Das ist ungefähr die Hälfte des staatlich garantierten Mindestlohns – weit entfernt von echtem Wohlstand. Und was hält Maria davon, jetzt dazuzugehören? „Mittelschicht? Keine Ahnung, was das sein soll“, sagt sie und lacht.