Erwachsen zu werden ist nie eine leichte Übung. Manche haben es aber extra schwer, weil ihr pubertierender Körper komische Sachen macht, tausend Pickel im Gesicht sprießen lässt oder sich sonst wie unerwünscht entwickelt. Den meisten Mädchen wächst ein Busen, den Jungen das Brusthaar. Was aber, wenn man von der erwartbaren Norm abweicht und dann auch noch in einer Gesellschaft lebt, die mit Normabweichungen so gar nicht umgehen kann?
Karim wachsen Brüste. Nicht gut im Irak unter Saddam Hussein
In einer solchen Situation steckt Karim, Held von Abbas Khiders neuem Roman „Ohrfeige“. Karim wachsen nämlich Brüste. Dass er todunglücklich darüber ist, wäre eine enorme Untertreibung. In der irakischen Männergesellschaft scheint es absolut unmöglich, sich mit einem derart unmännlichen Problem irgendjemandem anzuvertrauen. Zumal in der politisch repressiven Atmosphäre der 90er-Jahre unter Diktator Saddam Hussein. Der Gesichtsverlust wäre fatal. Was soll, was kann Karim tun, um doch noch ein Mann zu werden? Er ist sich sicher: Es bleibt nur ein Ausweg: das Land zu verlassen. Nach Europa zu gehen, sich als politischer Flüchtling auszugeben und in aller Heimlichkeit die ungewollten Körperteile wegoperieren zu lassen.
„Plötzlich war ich mittendrin, ohne zu wissen, dass ich gerade den Fehler meines Lebens begehe.“
Die Probleme, die Menschen bewegen, ihre Heimat zu verlassen, können die unterschiedlichste Gestalt haben, wie Karims ungewöhnliches Beispiel zeigt. Der Fall seines Autors Abbas Khider, Jahrgang 1973, der im Jahr 2000 nach Deutschland kam, lag anders. Khider war sozusagen das Musterbeispiel eines politischen Flüchtlings. Als Student im Irak hatte er sich etwas Geld verdient, indem er Bücher verkaufte; verbotene Bücher, durch die er in Kontakt mit Dissidenten kam und so allmählich zum politischen Aktivisten wurde. „Plötzlich war ich mittendrin, ohne zu wissen, dass ich gerade den Fehler meines Lebens begehe“, so formulierte er es in einem Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“. Ab und zu legte der junge Khider den verkauften Büchern regimekritische Flugblätter oder eines seiner Gedichte bei. Das ging nicht lange gut. Er wurde immer wieder verhaftet und gefoltert, saß mehrfach im Gefängnis. Mit Anfang 20 gelang es ihm, nach Jordanien zu fliehen, wenige Jahre später war er in Deutschland – gerade als sich im Nachhall der Anschläge des 11. September 2001 die Stimmung gegenüber Flüchtlingen aus der arabischen Welt vorübergehend ganz schön verfinsterte.
In genau dieser Zeit ist die Handlung von „Ohrfeige“ angesiedelt. Doch anders als Abbas Khider selbst, der von sich sagt, er sei „einer von den wenigen, die Glück gehabt haben“, gehört Karim zur großen Masse jener, denen unerbittlich gezeigt wird, dass der Buchstabe des Gesetzes im Zweifelsfall mehr gilt als ein einzelnes menschliches Schicksal.
Sex nur im körperformenden T-Shirt
Dabei gibt Karim sich alle erdenkliche Mühe. Er nimmt, als er endlich arbeiten darf, die miesesten Jobs an, nur um endlich die Berechtigung zu bekommen, am Deutschkurs teilzunehmen. Als es so weit ist, paukt er hingebungsvoll die deutsche Sprache – und bekommt dabei immerhin die Gelegenheit, mit Hilfe einer russischen Mitschülerin zu beweisen, dass er tatsächlich ein Mann ist. Für eine Brustoperation fehlt ihm allerdings immer noch das Geld. Das körperformend enge T-Shirt kann er beim Sex nicht ausziehen.
Aber ohnehin schieben sich bald größere Sorgen ins Bild. Nachdem Karim drei Jahre in Deutschland ist und schon hofft, vielleicht endlich studieren zu können, sind in der Zwischenzeit all diese Dinge passiert: die Flugzeuge, die ins World Trade Center fliegen. Der Einmarsch der Amerikaner im Irak. Der Sturz Saddam Husseins. Urplötzlich gilt Karim nicht mehr als politisch verfolgt, denn Saddam ist ja weg. Er erhält einen Bescheid, der seinen Asylstatus widerruft, was ihn zu einem nur noch Geduldeten ohne Reisefreiheit macht. Um seine potenzielle Abschiebung in den Irak zu verhindern, bleibt ihm nur ein Ausweg: wieder einmal einen Schleuser zu bezahlen, der ihn außer Landes schaffen soll. Nach Finnland, in ein Land, von dem Karim rein gar nichts weiß, außer dass die Chancen auf Asyl dort besser stehen.
Schwierige Geschichte leicht erzählt
All das spielt sich innerhalb einer anfangs merkwürdig scheinenden Rahmenhandlung ab. Karim hat nämlich die zuständige Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde an einen Stuhl gefesselt, um sie zu zwingen, ihm endlich einmal zuzuhören. Merkwürdig scheint das deshalb, da wir Karim ansonsten als einen überaus friedfertigen Menschen kennenlernen, der es nach allem, was er erlebt hat, sicher nicht riskieren würde, sich auf diese Weise in den Augen der deutschen Gesellschaft zum Kriminellen zu machen. Aber wenn wir uns deswegen gewundert haben sollten, sind wir, wie wir auf jeden Fall am Ende merken, glatt dem Autor auf den Leim gegangen, der nämlich als Erzähler mit vielen Zungen auf einmal singt.
Dabei hätte man es ahnen können. Wahre Tragik, echte Dramatik kommen bei Abbas Khider nie allein daher, sondern immer Hand in Hand mit einer ihrer sonst oft so entfremdeten Schwestern: der Komik oder der Groteske. Deshalb liest sich Karims schwierige Geschichte wundersam leicht. Bei Khider, als einem von ganz wenigen Autoren, kann man ihr nämlich begegnen: der oft zitierten „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Es gibt sie wirklich. Aber in der Regel muss erst einer kommen und sie uns zeigen.
Abbas Khider: „Ohrfeige“. Hanser Verlag, München 2016, 224 S., 19,90 Euro