Am 9. Januar 2015 wird auf einem Platz vor einer Moschee in der saudischen Hafenstadt Dschidda ein Mann öffentlich ausgepeitscht. Die 50 Hiebe sind die ersten von 1.000 verteilt auf 20 Wochen. Doch die Verletzungen sind so schwerwiegend, dass die weiteren Vollstreckungen an dem 30 Jahre alten Häftling auf ärztliches Anraten ausgesetzt werden. Bis heute.
Raif Badawi, gläubiger Muslim, Ehemann, Vater und Blogger, ist nicht der einzige Mensch, der in Saudi-Arabien wegen seiner Überzeugungen im Gefängnis sitzt. Doch weil er an jenem Freitag im Januar öffentlich gefoltert wurde, ist er weltbekannt. Seit 2012 in Haft, wurde Badawi Mitte 2014 zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt, was eine zuvor ausgesprochene Strafe noch verschärfte. Dass er für Glaubensfreiheit eingetreten war, brachte ihm den Vorwurf der „Beleidigung des Islam“ ein. Sein Internetforum „Freie Saudische Liberale“ war der saudischen Justiz entschieden zu frei und liberal. Juristisch ist Badawis Fall abgeschlossen, was bliebe, wäre ein Gnadenakt des Königs.
Amnesty International stuft Badawi als politischen Gefangenen ein und fordert seine Freilassung. So wie Menschen und Institutionen überall auf der Welt. Doch weder öffentliche Kampagnen noch diplomatische Interventionen haben bislang etwas erreicht. Riad schweigt.
Diese Erfahrung hat auch Barbara Lochbihler gemacht. Die stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments schrieb im April 2015 einen Brief an den damals seit 100 Tagen herrschenden König Salman, um sich für Badawi einzusetzen. Sie hat nie eine Antwort bekommen. Auch der Versuch von Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments, Badawis Fall bei einem Besuch in Saudi-Arabien im Februar anzusprechen, sei erfolglos gewesen. „Da bewegt sich nichts“, sagt Lochbihler.
Es gibt ein Foto von Raif Badawi, das durch die Demonstrationen für ihn überall auf der Welt fast schon ikonografisch ist. Man sieht einen jungen Mann mit langen Haaren, der in die Kamera lächelt, offen, optimistisch, voller Tatendrang. Es ist ein Bild von Badawi vor der Tortur der Inhaftierung, vor der Auspeitschung, vor dem Hungerstreik, in den er Ende des vergangenen Jahres für einige Zeit trat. Wie es ihm inzwischen geht, weiß nicht einmal seine Ehefrau genau zu sagen.
Badawi hat viele Würdigungen erhalten, seit seine Geschichte so traurige Berühmtheit erlangte
Ensaf Haidar, die mit den drei gemeinsamen Kindern seit Herbst 2013 in Kanada lebt, hat eine Stiftung gegründet und ein Buch geschrieben, sie reist um die Welt und twittert, um für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen. Im April hat sie in Frankfurt den Deschner-Preis in Empfang genommen, der ihr und ihrem Mann von der Giordano-Bruno-Stiftung verliehen wurde für ihren „gemeinsamen, mutigen und aufopferungsvollen Einsatz für Säkularismus, Liberalismus und Menschenrechte, der weit über Saudi-Arabien hinaus Bedeutung hat“. Badawi hat viele Würdigungen erhalten, seit seine Geschichte so traurige Berühmtheit erlangte. Das Europäische Parlament verlieh ihm 2015 den Sacharow-Preis, der den Einsatz für Menschenrechte und Meinungsfreiheit würdigt und den bereits Persönlichkeiten wie Nelson Mandela oder Malala Yousafzai, beide auch Friedensnobelpreisträger, erhielten.
Ensaf Haidar nahm die Auszeichnung im Dezember entgegen. In diesem Mai besuchte sie ein Treffen von Sacharow-Preisträgern in Brüssel und erzählte Barbara Lochbihler von den regelmäßigen Telefonaten mit ihrem Mann. Von sich selbst rede er bei diesen abgehörten Gesprächen kaum, er erkundige sich, sagt seine Frau, meist vor allem nach den Kindern.
Wenngleich also die Lage verzweifelt scheint für Badawi – und auch für all die anderen in Saudi-Arabien inhaftierten „kritischen Geister, die kriminalisiert werden, um sie aus dem Verkehr zu ziehen“, wie Lochbihler sagt –, sieht die Parlamentarierin doch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Der Sacharow-Preis sei „ein Durchbruch“ gewesen, der die Debatte um die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien intensiviert habe. Und bei ihrem jüngsten Treffen entschieden die versammelten Preisträger, gemeinsam einen Brief an den saudischen König zu verfassen, um ihn anlässlich des am 6. Juni beginnenden Ramadan um Gnade für Badawi zu bitten. Solch ein Gnadenakt würde der muslimischen Tradition entsprechen.
Fotos: Roger Lemoyne/Redux/Redux/laif; Daniel Leal-Olivas /Polaris/laif