Sie hatten sich gerade zehnmal gesehen, vielleicht 200-mal telefoniert, als sie merkten, dass es wahrscheinlich nicht klappen würde mit dem Leben, so wie sie es wollten. Avesta und Azad. Sie haben Bilder von damals: Ihre kleine Hand, die Fingernägel rot lackiert, liegt in seiner.
Sie hatten, obwohl alles noch frisch war, oft über die Zukunft gesprochen. Eine junge Jesidin kann sich nicht mit einem Mann treffen, ohne dass es gleich um alles geht. Avestas Eltern sind strenggläubig, und in der jesidischen Gemeinde in Deutschland sind Zwangsheiraten keine Ausnahme.
Azad zieht in ihre Stadt, baut etwas auf, so hatten sie es sich vorgestellt am Ufer der Ruhr, in Mülheim, wo sie sich heimlich trafen. Er sucht eine Wohnung, findet einen Job, und wenn alles anständig aussieht, dann würde er bei ihren Eltern klingeln. „Guten Tag, ich würde gerne Ihre Tochter heiraten.“
Doch nichts würde sie interessieren, kein Beruf, keine Wohnung, wenn nicht zuerst diese eine Frage geklärt wäre: Ist er ein Jeside? Und er müsste es ihnen sagen: Nein, ich bin der Sohn
einer halbdeutschen Halbspanierin und eines Kurden. Also ein Viertelspanier-Vierteldeutscher-Halbkurde.
Das war im Jahr 2012.
Sie kannten sich von Facebook. Er hatte dort eine Philosophiegruppe eröffnet. Sie diskutierten über Zarathustra, den alten persischen Gelehrten. Er fragte sie, warum sie sich dafür interessiere. Erst per E-Mail, dann am Telefon.
Er: War ein nachdenkliches Kind. Hatte Bücher gelesen, wenn die anderen Kinder gespielt haben. Hat sich mit Psychologie beschäftigt und mit der Evolutionstheorie. Dann mit Philosophie.
Sie: Hat mit 16 angefangen, Zitate von Dichtern und Philosophen zu sammeln. Oscar Wilde, Konfuzius.
Er: Fand alle toll, die anders gedacht haben. Aber Zarathustra war der Einzige, mit dem er sich identifizieren konnte.
Sie: Kannte Zarathustra von ihrem Vater. Er hatte ihr gesagt, dass sie lernen solle, selbst zu denken.
In jedem Anfang liegt schon das Ende, hat Zarathustra gesagt.
Als sie sich kennenlernten, war er 20 und sie 19.
Es dauerte nicht lange, da erzählte er ihr, dass auch er ein Problem habe. Weil er verheiratet sei.
Er war mit seinen Freunden in der Türkei, in deren Heimatdorf. Tief im Osten. Kurdisches Gebiet. Sie wollten sich die Archäologie ansehen, so sagt er das. Er hat sich mit der Cousine angefreundet, sie haben Ausflüge zusammen gemacht.
Die Freunde haben vorgeschlagen, dass sie heiraten. Auch die Familie wollte das, irgendwann das ganze Dorf. Und das Mädchen wollte es wohl auch. Er war 19. Und schließlich hat er unterschrieben. Auf dem Papier waren sie dann Mann und Frau. Eine Feier gab es nicht. Die sollte in Deutschland nachgeholt werden.
Sobald sie verheiratet waren, wurde sie anders. Wollte er etwas von ihr, hat sie sich bei ihrer Mutter beschwert. Hat er ihr etwas geschenkt, war nur wichtig, wie viel es wert war. Für ihn hatte sie nur ein müdes Lächeln. Keine Wertschätzung, sagt er.
Zurück in Deutschland sollte er ein Visum für seine Frau beantragen. Er wollte nicht. Er hat sich alles Mögliche einfallen lassen, um die Sache hinauszuzögern. Die Familie wurde ungeduldig, warum dauert das so lange? „Was kann ich tun?“, hatte er die Ausländerbehörde gefragt. Wir können das Visum natürlich ablehnen, hatte die Behörde geantwortet.
Er erzählte die Geschichte Avesta. Sie begriffen, dass sie beide Eingesperrte waren.
Wir möchten diejenigen sein, die die Welt lichtglänzend machen, hatte Zarathustra gesagt. Sie trafen sich und versuchten zu vergessen, dass die Dinge immer komplizierter wurden.
Die Familie seiner türkischen Ehefrau war außer sich, als das Visum abgelehnt wurde. Sie wollte herausfinden, warum. Sie beauftragte Anwälte, wollte klagen gegen den deutschen Staat. Sie zwang ihn, mit einem Verwandten des Mädchens zur Ausländerbehörde zu gehen. Das nächste Mal sollte der Anwalt mitkommen.
Er hatte noch eine Woche, schätzte er. Dann würde alles auffliegen. Und dann würde ihn eine kurdische Familie bestrafen, weil er ihr Mädchen nicht gewollt hatte.
Eigentlich wollte er alleine abhauen. Niemanden mit hineinziehen, das sagt er oft. Aber Avesta, das Mädchen, das er gerade zehnmal gesehen hatte, um dessen Hand er anhalten wollte, eigentlich, irgendwann, sagte: Ob sie jetzt Ärger bekommt, weil sie mit ihm geht oder später, weil sie nachkommt, das sei jetzt auch egal.
Er: Hat seine Wohnung ausgeräumt, von Donnerstag bis Montag, alles musste raus. Er hat seine Küche verkauft, alle Möbel, zwei große Koffer gepackt. Die ganze Nacht geputzt. Montagmorgen war er bereit.
Sie: Hat ihren Papierkram erledigt. Einen Brief geschrieben: Dass sie mit ihm zusammen ist, dass sie eines Tages zurückkommt und alles erklärt. Am Montagmorgen schlich sie sich mit zwei Tüten aus dem Haus.
Sie haben sich im Zug getroffen. Ihre Schwester schrieb auf WhatsApp: Bist du bei der Arbeit? Sie antwortete: Ich komme nicht zurück. Schau unter mein Kissen, dort liegt ein Brief. Dann, der Zug fuhr gerade an Braunschweig vorbei, dachte sie: jetzt. Sie schaltete ihr Handy aus. Holte ihre SIM-Karte heraus und zerbrach sie.
Sie hatte ihren Bausparvertrag aufgelöst und noch etwas Geld von ihrer Ausbildung. Zusammen hatten sie 400 Euro. Unterwegs haben sie sich so viel Geld geliehen, wie sie konnten.
Die erste Woche blieben sie in Berlin. Sie nahmen ein Hotel in Charlottenburg, zahlten 45 Euro pro Nacht. Das Geld wurde weniger.
Seine Eltern wollte er nicht mit reinziehen, er hatte ihnen nichts gesagt. Aber bald klingelte sein Handy, ein Freund war dran: „Sag mal, was ist da los? Da stehen Leute vor eurer Tür, die sagen, du hast ein Mädchen entführt?“
Avestas Familie hatte Azads Eltern gefunden. „Wenn Avesta nicht zurückkommt, töten wir den Vater oder den Onkel“, sagten die Männer. Wenn sie zurückkommt, sagte ihr Onkel, würde er sie mit seinem Sohn verheiraten.
In Charlottenburg, in ihrem Hotel, schliefen sie jede Nacht mit einem offenen Auge. Tagsüber waren sie ruhiger. Manchmal fühlten sie sich wie im Urlaub. Tauchten in der Menge unter. Genossen es, endlich Zeit zu haben.
Nach einer Woche sagten sie: Es ist zwar schön hier, aber wir können uns das nicht ewig leisten. Also sind sie in ein Internetcafé gegangen und haben nach günstigeren Hotels gesucht. Das günstigste war in Merseburg.
Merseburg an der Saale in Sachsen-Anhalt. Sie hatten keine Ahnung, wo das sein soll, aber sie sind einfach los, in den Zug. Das Hotel war alt und ranzig, innen wie ein Gefängnis. Nur der Eingang war frisch gestrichen, den konnte man auf den Fotos sehen. 23 Euro pro Nacht. Sie haben durchgehalten. Nach drei Tagen hatten sie in Dresden eine Wohnung gefunden.
Sie haben sich eine Matratze für 30 Euro gekauft, ein paar Decken. Und eine große Pizzapfanne, in der sie alles gekocht haben, kurdisch, türkisch. Für sechs Euro haben sie sich eine Karte bei der Stadtbibliothek geholt und sich dort Videos ausgeliehen. So haben sie die Zeit verbracht.
Sie ließen ihre Meldeadresse sperren. Nutzten Telefonzellen. Nie vom Bahnhof aus anrufen, hat einer von Azads Freunden ihnen gesagt. Wenn im Hintergrund die Ansage kommt, seid ihr verraten. Dann wissen sie, in welcher Stadt ihr seid.
Auch in jesidischen Gemeinschaften hat es „Ehrenmorde“ gegeben. Arzu Özmen aus Nordrhein-Westfalen wurde 2011 von ihren Geschwistern entführt und von einem ihrer Brüder umgebracht, weil sie sich in einen Russlanddeutschen verliebt hatte. „Aber sie ist ja in derselben Stadt geblieben, diese Arzu“, sagt Avesta. „Da haben die sich provoziert gefühlt.“
Azad hat Avesta Tricks gezeigt, wie sie sich verteidigen kann, auch gegen einen großen Mann. Sie haben sich darauf vorbereitet, dass nachts jemand in ihre Wohnung kommt. Du nimmst ein Messer und dann los, sagt Azad.
„Das Schlimmste ist“, sagt er, „dass du bereit bist zu morden, weil du keine Wahl hast, wenn sie kommen. Sie nehmen dir die letzte Menschlichkeit.“ Kurze Pause. Aber wenn es klappt, sagt er, dann fängt es erst richtig an. Du hast das Mädchen weggenommen und den Cousin getötet: „Die werden dich und deine Familie jagen.“
Aus Avestas Zitatsammlung: „Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein.“ Mahatma Gandhi.
Angst, sagt Azad, sagt Avesta, die kennen sie nicht mehr. Sie sind da abgestumpft.
Avestas Familie und die Familie von Azads Frau wollten sich ein paar Monate nach ihrer Flucht mit ihnen aussprechen. Das Treffen sollte in Gießen stattfinden, so ziemlich in der Mitte Deutschlands. Kurz vorher hat ein Freund sie angerufen, hat von der Polizei gesprochen. Sie haben das als Warnung verstanden und sind umgekehrt. Später hat ihnen einer von Azads Freunden erzählt, dass sie bei dem Treffen entführt werden sollten.
Ein andermal, als Azad bei Amazon war, um zu arbeiten, hat es nachts an ihrer Tür gehämmert. Avesta war allein zu Hause, hat durch den Spion geschaut, dort standen zwei Männer, die Kurdisch miteinander sprachen. Sie ist in die Küche geflohen, die Polizei hat sie am Telefon kaum verstanden. Als Azad kam und die Polizei da war, waren die beiden Männer plötzlich ganz friedlich. Sie seien alte Freunde, wollten nur vorbeischauen. Und sie hätten Nachricht von seiner Frau. Er sei einfach abgehauen und habe sie in der Türkei sitzen lassen. Das mache man doch nicht. Oje, sagte der Polizist. Das muss man aber doch klären!
Nach dieser Nacht sind sie umgezogen. Und weil Azad Geld verdient hat, wollten sie sich etwas leisten. 70 Quadratmeter, 350 Euro warm. Eine Wohnung im Plattenbau. Die Decken sind niedrig, die Wände in Ockergelb gestrichen. Aber sie können weit über Dresden blicken. Luft und blauer Himmel.
Ein Jahr später wohnen sie immer noch dort. Sie sind ein schönes Paar. Sie hat lange schwarze Haare, ihre Augen leuchten, sie blickt immer wieder zu ihm auf. Er ist groß, hält sich gerade und trägt seine schwarze Windjacke wie einen Gehrock. In seinen Augen ist etwas gebrochen.
Im Wohnzimmer stehen eine weiße Couchgarnitur und ein Esstisch mit vier Stühlen. Avesta hat einen Sandkuchen gebacken und einen Marmorkuchen. Auf dem Boden ein paar Sägespäne, Spuren von Dodo, dem Zwergkaninchen. „Ohne Dodo hätten wir es nicht geschafft“, sagt Azad.
Wie viele Menschen, die unter großer Anspannung stehen, haben sie erst abgenommen und dann Gewicht angesetzt. Er hatte über die zwei Jahre Schwankungen von 30 Kilogramm. Auch sie ist molliger geworden. Wenn sie durch Dresden laufen, sagt er, sind sie wie Geister. Niemand kennt sie hier.
Obwohl ihnen Dresden gefällt und es dort günstig ist, wollen sie zurück nach Nordrhein-Westfalen. Sie kommen mit dem Rassismus nicht klar. Angerempelt werden beim Einkaufen, das sei völlig normal, sagen sie. Azad erzählt von einem Einkaufswagen, den er erst vor Kurzem in die Rippen bekommen hat. Avesta verzieht ihr Gesicht, erzählt, dass vergangene Woche ein Mann zu ihr „Fotze“ gesagt habe. Sie spricht das Wort vor-sichtig aus.
Sie haben in Dresden keine Freunde gefunden. Azad arbeitet als Aushilfe bei einem Imbiss, kurzzeitig war er auch in einem Callcenter und über Weihnachten bei Amazon. Avesta hat keine Stelle gefunden, obwohl sie eine Ausbildung als Verkäuferin hat. „Wir sind halt dunkel“, sagt Azad. Es klingt sachlich. Sie fühlen sich in Dresden schon seit einigen Monaten nicht mehr sicher, vor allem nachts. Auch wegen der Pegida-Demonstrationen. Wenn sie wieder in Nordrhein-Westfalen sind, glaubt er, fallen sie weniger auf.
Azad hat sich inzwischen ausgesprochen mit der Familie seiner Frau. Vor eineinhalb Jahren war er dort, Avesta kam mit und hat sich im Hotel versteckt. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Im Dezember 2013 war das. Es war so kalt in den kurdischen Bergen, dass das Wasser in der Karaffe eingefroren ist, als sie in einem Restaurant saßen.
Vor einem halben Jahr dann die Scheidung in Ankara. Eigentlich wollten ihn Freunde begleiten, damit er nicht allein dort hingehen muss. Sie kamen nicht, er war sauer. Vor ein paar Wochen hat er erfahren, dass die Polizei sie festgehalten und bei ihnen geladene Waffen entdeckt hat. Einer hatte keinen Waffenschein, er sitzt bis heute im Gefängnis. Azad wusste nichts davon. Vieles, glaubt er, haben ihm seine Freunde verschwiegen, um ihn nicht zu beunruhigen.
Avesta hat mehrfach versucht, bei ihrer Mutter anzurufen. Aber immer wenn sie ihre neue Nummer herausgefunden hatte, über Nachbarn, über Freunde, hat sich die Mutter eine neue SIM-Karte geholt. Einmal ging sie ran.
„Es geht nicht.“
„Ich kann nicht.“
„Es geht nicht.“
Dann hat sie aufgelegt. Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht vergeben.
Wenn dieser Text erscheint, werden sie schon nicht mehr in Dresden wohnen. Sondern in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen, die sie nicht verraten. Sie haben dort eine Wohnung gefunden. Seine Familie kennt den Ort nicht.
Die Namen der beiden und die mancher Orte wurden geändert