Wo ist das Zentrum von Istanbul? 

Es gibt kein typisches „Zentrum“, Istanbul wuchs aus vier Altstädten zusammen: die historische Halbinsel, Beyoglu, Üsküdar und Kadiköy auf der asiatischen Seite, die im 7. Jahrhundert v. Chr. als Handelskolonien gegründet wurden. Das Paradoxe:Was in Touristenführern als „die“ historische Altstadt bezeichnet wird, wurde nach 1950 zu 80 Prozent abgerissen und neu gebaut – in Apartmenthäusern war einfach Platz für mehr Menschen. Zerstörung und Wiederaufbau: Das ist die Verfassung Istanbuls.Aber vor allem war die Metropole von je-

Abreißen und neu bauen – ist das nicht auch typisch für die Gecekondus? 

Zwei Drittel der heutigen Stadt waren früher Gecekondu-Viertel: Jemand kam frisch in die Stadt, brauchte eine Bleibe, der Boden kostete nichts. Diese Ur-Gecekondus bildeten eine Grauzone zwischen Land und Stadt, die Bewohner keine Bauern mehr und noch keine Städter.Von 1980 an wurde ihnen das Land offiziell überschrieben. So konnte Istanbul nicht nur flächenmäßig wachsen, es wurde vor allem dichter: Sie bauten ihre Einfamilienhäuser in Apartmentgebäuher eine Migrantenstadt, so hat sie schon immer Bauernjungen aus dem Hinterland als billige Arbeitskräfte für die Wirtschaft am Hafen angezogen.

Wie sah die Stadt denn früher aus? 

Nehmen wir etwa den Moscheekomplex Süleymans des Prächtigen, zwischen Wohngebiet und Basarviertel: Als die Moschee vor 450 Jahren gebaut wurde, hatte sie unter anderem auch wirtschaftliche Funktionen. In dem Komplex gab es zum Beispiel einen Herbergstrakt, wo die armen Burschen, die Arbeitskräfte des Viertels, umsonst wohnten – das war eine Art Wirtschaftsförderung. Heute sammelt sich rund um das Wahrzeichen der Stadt die Recycling-Szene. Die Müllsammler wohnen neben den Touristen: Istanbul lässt ein Zuckerbäcker-Image nicht zu. 

Und wie hat sich dieses Gebiet verändert? 

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wohnte die Oberschicht auf der historischen Halbinsel. Die Wohlhabenden sind dann immer weiter nach Norden gezogen und haben die Reste für die Armen zurückgelassen. Jetzt möchte diese Schicht wieder zurückkommen. Das aktuelle Projekt der Stadtplanung heißt „Museumsstadt“: Rund um die Süleyman-Moschee soll viel abgerissen und wieder so aufgebaut werden, wie es im 19. Jahrhundert aussah. Das letzte zusammenhängende Viertel aus Ur-Gecekondus dürfte Karanfilköy sein, beim Bankenviertel Levent. 

Und Beyoglu? Vor 20 Jahren kriminell, heute hip. 

Beyoglu, bis in die Fünfziger eine Toplage, war später als Rotlichtviertel bekannt, aber eigentlich ein Industriestandort. In den oberen Stockwerken werden heute teilweise noch immer Schuhe hergestellt,Taschen oder Plastikeimer. Jetzt kommt aber eine neue Kultur- und Ausgehszene, das sind teils Studenten, teils BoBos, die „Bourgeois Bohémiens“. Die Animierlokale im Erdgeschoss beginnen daher schon zu verschwinden. Und damit auch die Armutsbilder aus dem Stadtzentrum. 

Kreativenszene und Kopftuchmilieu – hat Istanbul denn überhaupt eine Identität? 

Die Tourismuswirtschaft propagiert, Istanbul sei eine Brücke. Das klingt oft so, als ob in eine westliche Stadt exotische Sehenswürdigkeiten gesät wären. Das ist genauso schwachsinnig wie die Annahme naiver Besucher, auf der asiatischen Seite seien die Asiaten! In Fatih etwa hat zwar die AKP (konservativ-islamische Regierungspartei des Ministerpräsidenten Erdogan,Anm. d. Red.) überdurchschnittlich viele Wähler, aber dort gibt es eben auch eine lebendige Rockszene! Eine Stadt dieser Größenordnung kann unmöglich „eine“ Identität haben.