Auf dem Gebiet der heutigen Türkei leben seit Jahrhunderten verschiedene ethnische und religiöse Gruppen zusammen, entsprechend heterogen ist die Bevölkerung zusammengesetzt. Nach der türkischen Verfassung ist die Türkei, „ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes“ (Art.3). Vertreter der unterschiedlichen Volksgruppen, die in der Türkei leben (Araber, Armenier, Assyrer, Kurden, Afghanen, Gagausen, Griechen, Lasen) kritisieren daran, dass ihre Volksgruppen in der Verfassung nicht erwähnt werden und daher keinen besonderen rechtlichen Status als Minderheiten genießen. Sie alle gelten als Türken. Seit der Gründung der Republik 1923 bildet der Nationalismus eine starke Säule der türkischen Staatsideologie, dies schlägt sich in der gesamten Gesetzgebung nieder. In dem Vertrag von Lausanne von 1923 werden nur die nicht-muslimischen Gemeinschaften der Armenier, Bulgaren, Griechen und Juden als Minderheiten anerkannt. Grund dafür ist bis heute die Sorge, dass die Anerkennung ethnischer Minderheiten unmittelbar dazu führen könnte, dass diese Gruppen sich mit ihren Siedlungsgebieten vom türkischen Staat abspalten möchten. Doch auch diese staatlich anerkannten Minderheiten leiden im alltäglichen Leben unter Einschränkungen. Sie dürfen ihre Sprache zwar sprechen, aber teilweise nicht unterrichten, sie dürfen beten, haben als religiöse Gemeinde aber keinen rechtlichen Status. Bedingung der EU für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei war die Erfüllung der politischen Kriterien des Europäischen Rates von Kopenhagen 1993: institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte, Schutz der Minderheiten. Organisationen wie Amnesty International erkennen die Fortschritte an, die auf diesen Gebieten durch die Reformen der türkischen Regierung gemacht wurden, fordern aber weitere Verbesserungen. 
 

CHRISTEN 


Nach dem griechisch-türkischen Krieg vereinbarten beide Staaten im Vertrag von Lausanne 1923 einen Bevölkerungsaustausch. 1,5 Millionen orthodoxe Christen wurden aus der Türkei ausgewiesen, dafür kamen 356 000 Muslime aus Griechenland. Durch die Vertreibung und Ermordung vieler Armenier war die Zahl der Christen nach dem Ersten Weltkrieg um fast eine Million dezimiert, die türkische Republik war 1923 zu 99 Prozent muslimisch. 1914 war jeder zweite Einwohner Istanbuls Christ, heute sind es im ganzen Land etwa 110 000. In der Türkei leben arabische, armenische, griechisch-orthodoxe, syrische, katholische und chaldäische Christen. Die Armenier bilden dabei die mit Abstand größte Gruppe. Jeder Christ darf seinen Glauben frei praktizieren, der Staat schränkt jedoch das Recht ein, sich als Gemeinde zu formieren. Nicht-muslimische Kirchen haben in der Türkei keinen gesicherten Status, sie können sich nur als Stiftung organisieren, aber kein Eigentum erwerben oder besitzen. Die Stiftung darf offiziell nur einen weltlichen Zweck verfolgen. Bis 1912 waren Kirchen auf den Namen der Heiligen ins Grundbuch eingetragen, denen sie gewidmet waren. Nach 1923 verlangten Grundbuchbeamte deshalb bei der Umschreibung die Zustimmung der Jungfrau Maria oder die des heiligen Georg – Schikane. „Religionsfreiheit existiert in der Türkei allenfalls auf dem Papier“, sagt der Botschafter des Vatikans in Ankara, Erzbischof Edmond Farhat. Laut Otmar Oehring, Menschenrechtsbeauftragter des katholischen Missionswerks Missio in Aachen, ist da mit auch die Berufswahl junger Christen eingeschränkt. „Entweder sie leben auf dem Land und sind so arm, dass sie sich keine Ausbildung finanzieren können. Oder sie bewerben sich um eine Arbeitsstelle, müssen dann aber im Personalbogen ihre Religion angeben. Steht da ,Christ’,  ist Schluss.“ Beim Militär oder im öffentlichen Dienst hätten Christen kaum Aussicht auf einen guten Job. Zudem häufen sich Übergriffe auf Mitarbeiter christlicher Kirchen. Im Februar 2006 erschoss ein 16-jähriger Muslim einen Priester in Trabzon vor der Kirche. Kurz darauf attackierten nationalistische Jugendliche den katholischen Priester von Izmir. Seitdem stehen in Izmir und an anderen Orten Polizisten vor Kirchen. Im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen gilt der Status der Christen vielen als Gradmesser für die Europa-Eignung der Türkei. Sogenanntes Lateinisches Kreuz, vor allem in der Kirche des Ostens gebräuchlich. 
 

ALEVITEN 

Aleviten und Sunniten sind Muslime, die Aleviten gelten als liberaler. Sie haben kein einheitliches religiöses Dogma und bauen ihren Glauben auch nicht auf den fünf Säulen des Islam auf – also der Ableistung des Glaubensbekenntnisses, dem Fastenmonat Ramadan, der Pilgerfahrt nach Mekka, regelmäßigem Beten und einer bestimmten Form von Abgaben. Aleviten beten nicht in der Moschee, sie treffen sich in einem Gemeindehaus oder Zuhause. Männer und Frauen, die sich übrigens nicht verschleiern, können an den Zeremonien gleichberechtigt teilnehmen. Außerdem lehnen die Aleviten die Scharia ab, die islamische Rechtsordnung, die das zivile und religiöse Leben regelt. Die Aleviten bilden mit etwa 20 Prozent die nach den Sunniten zweitgrößte Religionsgemeinschaft in der Türkei.Alevi bedeutet „Anhänger Alis“. Ali ibn Abi Talib war der vierte Kalif und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. In ihrer Verfassung ist die Türkei als demokratischer, sozialer und laizistischer Staat festgeschrieben. Also als Staat,in dem Kirche und Staat getrennt sind. Experten für Menschenrechtsfragen
meinen, dieses Prinzip werde durch das staatliche, rein sunnitische „Präsidium für Religionsangelegenheiten“ unterlaufen. Keiner der 100 000 Beschäftigten ist
Alevit. Statt die Religion zu kontrollieren, habe die Behörde den Islam in Eigenregie
übernommen und verwalte ihn. Damit sei die Türkei ansatzweise zu einer „sunnitischen
Republik“ geworden. Die Sunniten bezweifeln – teilweise öffentlich –, dass Aleviten
überhaupt Muslime sind. Alevitische Schüler müssen den sunnitischen Religionsunterricht besuchen. Politisch zählen die meisten Aleviten zu den
Sozialdemokraten und den gemäßigten Linken. Obwohl jeder fünfte Bürger der Türkei
Alevit ist, sind ihre wichtigsten Forderungen bisher unerfüllt: staatliche Anerkennung, eine alevitische Abteilung im Präsidium für Religionsangelegenheiten, alevitischer Religionsunterricht in den Schulen. Im April 2005 gab aber erstmals ein türkisches
Gericht dem Antrag einer alevitischen Familie statt,die ihr Kind vom Religionsunterricht
befreien wollte. Im Juli 2006 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einem Vater recht, der Gleiches für seine Tochter forderte. Obligatorischer Religionsunterricht,
so das Urteil, das laut der türkischen Zeitung Hürriyet im Herbst offiziell verkündet werden soll, verstoße gegen das Recht auf Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung.

JUDEN


In keinem anderen islamischen Land leben so viele Juden wie in der Türkei. Ende des 15. Jahrhunderts flohen Hunderttausende spanische Juden vor der Inquisition und auch
während der Nazidiktatur nahm die Türkei jüdische Emigranten auf. In den Fünfzigerjahren wanderten viele Juden nach Israel aus. Heute leben etwa 22 000 Juden in
der Türkei, 20 000 davon in Istanbul. Sie sind Ärzte, Händler, Journalisten und halten sich im öffentlichen Leben eher zurück.Antisemitismus hat in der Türkei – im Gegensatz zu anderen Ländern – keine Tradition und war daher lange eine Randerscheinung. Antisemitische Hassparolen islamischer Fundamentalisten fanden in der türkischen
Bevölkerung fast keine Resonanz. Im Istanbuler Stadtteil Kuzguncuk stehen sogar eine Moschee, eine Kirche und eine Synagoge in unmittelbarer Nähe zueinander und erinnern an das friedliche Miteinander von Türken, Armeniern und Juden. Zuletzt verschlechterte
sich die Situation durch den Libanon-Konflikt. In den Straßen sind vermehrt antiisraelische und antisemitische Poster zu sehen, die Zeitung Turkish Daily News berichtet, dass sich Ladeninhaber in Istanbul geweigert hätten, jüdische Kunden zu bedienen. Verunsichert haben die jüdische Gemeinde die Anschläge islamischer Terroristen auf zwei Istanbuler Synagogen im Jahr 2003. Einer davon traf die größte Synagoge Istanbuls „Neve Shalom“, insgesamt wurden 25 Menschen ermordet, über 300 verletzt.

KURDEN 


Etwa 14 Millionen Kurden leben heute in der Türkei,manche schätzen ihre Zahl auf bis zu 20 Millionen. Eine genaue Zahl ist nicht bekannt, da bei Volkszählungen Ergebnisse fehlen oder nicht öffentlich gemacht werden. Die meisten Kurden leben in Südostanatolien, in den Provinzen Urfa, Batman und Diyarbakir – im Durchschnitt unter sehr schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen. Im Jahr 2003 lag nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Durchschnittseinkommen im Westen der Türkei bei 6000 US-Dollar. In den Kurdengebieten waren es dagegen nur 600 US-Dollar. Von einem möglichen Beitritt zur EU erhoffen sich die Kurden eine Stärkung ihrer Position und die Möglichkeit, ihre Kultur ohne jede staatliche Einschränkung leben zu können. Erst im April 1991 hat das türkische Parlament ein Gesetz aufgehoben, das die Verwendung der kurdischen Sprache unter Strafe gestellt hatte. Im Jahr 2002 erlaubte das türkische Parlament den Unterricht in kurdischer Sprache, allerdings nur in privatem Rahmen. Den kostenpflichtigen Unterricht können sich die meisten Kurden nicht leisten. Außerdem müssen die Schulungsräume hohen Bauauflagen entsprechen, was es sehr schwer macht, günstige Unterrichtsräume zu mieten und größere Schulen zu gründen. Seit vier Jahren darf Kurdisch auch im staatlichen Radio und Fernsehen gesprochen werden. Gesetzlich vorgeschrieben sind dabei türkische Untertitel. Ausgestrahlt werden diese Programme nur wenige Stunden in der Woche. Aber auch die kurze Sendezeit hat positive Auswirkungen auf die Musikszene: Kurdische Musik war lange verboten. Musiker sangen also auf Türkisch und verhielten sich unpolitisch. Wer auf Kurdisch singen wollte, ging ins westliche Ausland und veröffentlichte dort Kassetten, die in der Türkei unter der Hand weitergegeben wurden. Nun gibt es in der Türkei eine neue Generation junger Songwriter wie Aynur oder Rojin, die auch im Radio gespielt werden. Wenn im türkischen Fernsehen das Video einer kurdischen Band gespielt werden soll, wie Hülya Avsar (siehe Seite 5) das wollte, sorgt das für großes Aufsehen. 
 

ARMENIER 


Die Armenier sind das älteste christliche Volk der Welt. Im 4. Jahrhundert wurde das Christentum im Königreich Armenien zur Staatsreligion ausgerufen. Knapp 3000 Jahre besiedelten die Armenier ein Gebiet zwischen Ostanatolien und dem Südkaukasus. Ab dem 14. Jahrhundert bis 1921 hatten die Armenier keinen eigenen Staat mehr. Die heutige Republik Armenien entstand erst nach dem Ersten Weltkrieg, gehörte aber bis 1991 zur Sowjetunion und erklärte sich nach deren Zerfall für unabhängig. Nur rund drei Millionen der weltweit etwa zehn Millionen Armenier wohnen in der Armenischen Republik, der Rest vor allem in Russland, Frankreich, den USA und im Nahen Osten. Außerhalb der armenischen Gemeinde in Istanbul mit ihren 46 000 Mitgliedern leben heute in der Türkei fast keine Armenier mehr. Zwischen 1915 und 1917 kamen bei der Vertreibung der Armenier aus ihren Wohngebieten im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier auf Todesmärschen und bei Massakern um. Das Europäische Parlament hat die türkische Regierung bei seiner Zustimmung zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen ausdrücklich aufgefordert, den Völkermord an den Armeniern als solchen anzuerkennen. Dagegen wehrt sich die türkische Regierung vehement. Die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches bestreitet bis heute, dass die Vertreibung der Armenier damals planmäßig und von der osmanischen Regierung beabsichtigt gewesen sei. Ein weiterer Streitpunkt ist der Schutz der alten armenischen Kirchen und Klöster in Anatolien. Das armenische Patriarchat in Istanbul zählte 1914 noch 210 Klöster und mehr als 2000 Kirchen. Nach Angeben des katholischen Hilfswerkes Missio stehen davon heute nur noch weniger als die Hälfte. Historiker werfen der türkischen Regierung vor, sie unternehme zu wenig,um armenische Bauten in der heutigen Türkei vor dem Verfall zu bewahren.