Für Streber ist das 15. Jahrhundert eine denkbar düstere Zeit. Wer zu viel wissen will, landet schnell im Kerker – und wer wirklich zu viel weiß von der Welt, endet auf dem Scheiterhaufen. Kein Wunder also, dass ein gewisser Leonardo (1452 bis 1519), von Haus aus bildender Künstler aus dem toskanischen Städtchen Vinci, seine epochalen Erkenntnisse ausschließlich geheimen Notizbüchern anvertraut, und das auch nur in einer unleserlichen Spiegelschrift von rechts nach links. Dabei soll der Sohn eines Notars und dessen aus Arabien stammender Magd ein schlechter Schüler gewesen sein, der das Rechnen und Lesen nur mit Mühe erlernte. Offenbar war der Zehnjährige aber schon ein recht vielversprechender Zeichner, weshalb sein Vater ihn eines Tages dem berühmten Bildhauer und Maler Verrocchio vorstellte – der ihn unter seine Fittiche nahm, wie das damals üblich war. Gemälde und Skulpturen waren zu dieser Zeit alles andere als ein schöngeistiger Zeitvertreib für die Elite, sondern die populärste und damit wichtigste Kunstform, vergleichbar mit dem Kino unserer Tage: Nur die Malerei konnte einer Welt aus Analphabeten die großen Geschichten erzählen. Jedes winzige Detail, von der Farbe eines Kleides bis zur Blume am Wegesrand, war von Bedeutung, und jeder konnte diese Details damals lesen.
Erst kürzlich war die Zentralperspektive eingeführt worden – eine Methode, Räume auch wirklich räumlich und die Dinge in einem bestimmten Verhältnis kleiner werden zu lassen. Das war mathematische Geometrie und sah auch so aus, bis Leonardo kam. Er hüllte die fernen und immer ferneren Landschaften stufenlos in neblige Schleier und dunstige Unschärfen, wie sie auch dem gewöhnlichen Auge erscheinen. Diese Technik des „sfumato“ (italienisch: „verraucht“) ist, neben seiner generellen Meisterschaft in dieser Kunst, Leonardos wesentlicher Beitrag zur Geschichte der Malerei. Er machte sie paradoxerweise realistischer, indem er die Unschärfe erfand. Zwar malte er, wie üblich, religiöse Motive, bezog seine Inspiration aber weder aus der Antike noch aus der Bibel – sondern aus der Natur. Leonardo ging sogar so weit, sich Leichen zu beschaffen, um sie zu sezieren und zu zeichnen, was er da sah. Die früheste Darstellung eines Fötus im Mutterleib beispielsweise stammt von Leonardo, ebenso wie zahlreiche andere anatomische Studien. Dabei ist sein eigentliches malerisches Werk, darunter die „Mona Lisa“ oder „Das letzte Abendmahl“, überraschend schmal. Unangefochten Leonardo zugeschrieben werden nur rund 15 Gemälde.
Ein Meister in der Kunst des Erfindens
Er ist 30 Jahre alt, als er sein erstes offizielles Bewerbungsschreiben einreicht – und erstmals mit seinen Fähigkeiten als Ingenieur an die Öffentlichkeit geht. Im Schreiben von 1482 an den Herzog von Mailand empfiehlt er sich als „Meister in der Kunst des Erfindens von Kriegsgerät“ zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Dabei schwärmt er vor allem von seinen Geschützen „von wunderbarem Effekt“ und verspricht: „Je nach Erfordernis werde ich die Offensivwaffe bis ins Unendliche variieren.“ Seine Kenntnisse als Künstler erwähnt er nur am Rande. Tatsächlich ist hier der Krieg der Vater aller Dinge. Leonardo entwirft Kriegsschiffe und Tauchboote, die mit Schrauben den Rumpf gegnerischer Schiffe durchbohren sollen. Er erfindet einen fahrbereiten Panzer mit acht Bordkanonen und, als Aufklärungsfahrzeug, den Helikopter. In seinen Notizbüchern finden sich sogar Pläne für einen Fallschirm, der erst im Jahr 2000 nachgebaut und erfolgreich getestet wurde.
Überhaupt bringt er nur sehr wenig von dem, was er einmal in Angriff genommen hat, wirklich zur Vollendung. Er gilt als sehr langsamer Maler und noch langsamerer Bildhauer – ein Reiterstandbild wird auch nach mehr als 16 Jahren nicht vollendet. Die meisten Fragen interessieren ihn offenbar nur so lange, bis er sie theoretisch beantwortet hat. Ist ein Perpetuum mobile möglich? Wie könnte ein Taucheranzug funktionieren? Welche Form hat ein Wassertropfen – und warum? Was bedeuten die Gezeiten, und woher kommt die Brandung? Später werden andere Forscher, die ihm folgen, ein ganzes Leben brauchen für die Beantwortung einer einzigen dieser Fragen – Leonardo löst die Rätsel wie nebenbei in seinen Notizbüchern. Und wendet sich, kaum dass die Tinte trocken ist, wieder anderen Problemen zu.
Dabei ist er alles andere als ein Nerd, leidet aber vermutlich unter Hyperaktivität. Er soll sehr gut ausgesehen haben, extravagant gekleidet und wahrscheinlich schwul gewesen sein. Wegen seiner Herkunft bleibt ihm die Akademie – die klassische Aubildung – versagt, was er spöttisch sieht: „Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf.“ Die Zeiten, in denen er lebt, sind nicht gerade ruhig. In wechselnden Koalitionen bekriegen sich unaufhörlich die mächtigen Stadtstaaten der italienischen Halbinsel, und herrscht einmal Frieden, bricht auch schon die Pest aus (Leonardo entwirft prompt eine vernünftige Kanalisation). Und so wird er von den Wechselfällen der Geschichte von Wirkungsort zu Wirkungsort – Florenz, Mailand, Mantua, Venedig, Rom – geschleudert wie eine Flipperkugel. Am Ende wird er vom jungen französischen König Franz I. nach Amboise eingeladen, wo er sich ein letztes Mal gigantischen Projekten widmet. Landschaftsplanung, Städteplanung, ein Kanal zwischen Loire und Saône. Der wurde dann knapp 300 Jahre nach Leonardos Tod fertiggestellt.
Natürlich stand auch Leonardo auf den Schultern von Riesen wie Aristoteles, Archimedes, Vergil, Vitruv oder Brunelleschi. Renaissance, die Wiedergeburt der Antike: An vielen Orten in Italien bedurfte es buchstäblich nur weniger Spatenstiche, und zum Vorschein kamen Triumphbögen, Bäder und Straßen einer überlegenen Zivilisation. Es muss für ihn gewesen sein, als würde sich unter seinen Füßen plötzlich ein versunkenes Gebirge des Wissens erheben – und ihn sanft anheben, weg vom Mittelalter, der Moderne entgegen. Oder, wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud schrieb: „Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen.“