Der frankokanadische Comiczeichner Guy Delisle ist viel herumgekommen in seinen 48 Lebensjahren. Im Auftrag von Trickfilmstudios beaufsichtigte er um das Jahr 2000 herum mehrfach für mehrere Monate Produktionen, die aufgrund der billigeren Löhne nach China und Nordkorea ausgelagert wurden. Einige Jahre später begleitete er seine Frau Nadège, die für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitet, und passte unter anderem in Birma und Israel als Hausmann auf die beiden kleinen Kinder auf, während Nadège in Krisenregionen im Einsatz war.

Vier dieser Reisen verarbeitete Delisle, der heute im französischen Montpellier lebt, zu Comicbüchern. In vielen kurzen, subjektiv erzählten Anekdoten schildert er mit hohen Erzählerqualitäten und einem guten Auge für Einzelheiten seinen Alltag in den anfangs so fremden Ländern. Delisle nimmt dabei die Rolle des gleichsam unwissenden wie neugierigen Beobachters ein, der die ihm rätselhaft erscheinenden Verhaltensweisen der Einheimischen festhält und sie manchmal auch verstehen lernt: Was sind das nur für Leute, die in Pjöngjang auf den Straßen immer rückwärtslaufen? Es sind chinesische Gastarbeiter, die eine Gymnastikform namens „Reverse“ ausüben.

Zeuge von Gängelung und Ungleichbehandlung

Delisles erstes Buch „Shenzhen“ beschreibt seinen Arbeitsaufenthalt in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Ende der 1990er. Shenzhen ist für die sozialistische Volksrepublik ein marktwirtschaftliches Versuchslabor, das in den letzten 30 Jahren von einer Kleinstadt zur Millionenmetropole gewachsen ist. Ein weiterer Trickfilmstudio-Job führt ihn wenige Jahre später in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang. In der Diktatur, die für nur wenige westliche Besucher offen ist, wird Delisle Zeuge des Personenkultes um Kim Jong-il und der teils bizarren Misswirtschaft seines Regimes – und handelt sich schon Ärger ein, als er einen Zettel an die Wand hängen will, die für die Porträts des Diktators Kim Jong-il und dessen Vater Kim Il-sung reserviert ist.

In seinen „Aufzeichnungen aus Birma“ berichtet Delisle von einem Land, das ihm nach jahrzehntelanger Militärdiktatur mitunter wie gelähmt erscheint, dessen Bewohner ihm aber ausnehmend freundlich begegnen. Der inzwischen eingeleitete Öffnungsprozess Birmas war damals nicht mehr als eine Hoffnung, die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi stand noch unter Hausarrest. Das bisher letzte Buch – „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ –  schließlich spielt an einem Ort, an dem man den politischen und religiösen Themen gar nicht ausweichen kann: Auf seinen Touren durch Israel, Gaza und das Westjordanland wird Delisle immer wieder Zeuge der Gängelung und Ungleichbehandlung der Palästinenser durch den israelischen Staat.

Selbstironische Alltagsschilderungen

Neben seinen Zufallsbegegnungen mit den politischen Verhältnissen referiert Delisle auch gezielt geschichtliche und wirtschaftliche Hintergründe – und kombiniert das alles mit – durchaus zum Teil selbstironischen – Schilderungen seines Alltags. Er erzählt vom Spielen mit seinem kleinen Sohn in Birma und wie er in Jerusalem seinen aus Schusseligkeit im Fahrstuhlschacht versenkt. In Shenzhen bestellt Delisle wegen seiner fehlenden Sprachkenntnisse immer das gleiche Essen und in Pjöngjang freut er sich, als er eine in Frankreich gefertigte Toilette entdeckt. Auch die skurrilen Blüten der Bürokratie, denen man offensichtlich nirgends auf der Welt entkommen kann, schildert er mit lakonischem Humor. Wie auch sonst soll man damit umgehen?

Ganz nebenbei werden in „Shenzhen“ und „Pjöngjang“ zudem Grundlagen der Trickfilmproduktion vermittelt, während wir in „Birma“ und „Jerusalem“ aufgrund der Arbeit von Delisles Frau einiges über die Organisationsstruktur von „Ärzte ohne Grenzen“ lernen. Und in allen vier Büchern geht es auch immer wieder um die Welt der „Expats“, der Expatriates. Das sind all die Abgesandten aus westlichen Firmen, NGOs und Kulturinstituten, die ein paar Monate bis ein paar Jahre gemeinsam in einer fremden Stadt leben und sich dort zu kleinen Parallelgesellschaften zusammenfinden.

Dieser stetige Wechsel zwischen den Erzählebenen schafft Authentizität und bewahrt Delisle davor, moralisierend oder schwer zu wirken. Auch an ernsten Stellen gelingt ihm auf diese Weise eine angenehme Leichtigkeit. Seine Zeichnungen sind einfach gehalten, die Figuren mit wenigen Strichen dargestellt, die Hintergründe minimalistisch, auch auf Farben verzichtet er weitestgehend.

Derart reduziert kann sich Delisle ganz dem Ikonischen widmen, gerne stellt er politische Zusammenhänge in kleinen Grafiken dar und lässt das Luxushotel für westliche Besucher in Pjöngjang auch mal wie ein Egoshooter-Level wirken. Mit all diesen Mitteln gelingt es ihm, seinen Alltag in China, Nordkorea, Birma und Israel auf unterhaltsame Weise spürbar zu machen.

Michael Brake, 33, ist Mitarbeiter von fluter.de und schreibt auch für die taz und Zeit Online über Comic-Themen.