Der Name Oxiana könnte erfunden sein, so phantastisch klingt er. Verheißungsvolles schwingt mit, Traumhaftes – und Fremdes. Aber Oxiana existiert. Benannt nach einem Fluss, der früher Oxus und heute Amudarja heißt und als Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan fungiert. Noch heute hört sich "am Hindukusch" fürchterlich weit weg an. Umso faszinierender ist es, zu lesen, was einen Engländer in den 1930er Jahren dorthin zog. Der Engländer hieß Robert Byron, und das Buch, das er über seine Erlebnisse schrieb, nannte er nach der Gegend am Oxus: "Der Weg nach Oxiana".
Blühende Zitronen
Derlei Reisen waren nicht unüblich. Die sogenannte "Grand Tour" gehörte schon seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Aristokratie fest zum Programm. Der Trip konnte schon mal mehrere Jahre dauern und war explizit als Bildungsreise gedacht. Junge Leute wurden losgeschickt, um mit all ihren Hutschachteln im Gepäck ihren Horizont zu erweitern. Man suchte nicht nach pauschaltouristischer Entspannung am Strand. Motivation für das Unterwegssein waren die ständige Konfrontation mit dem Neuen, die Erfahrung gänzlich unbekannter Kulturen und unerschlossener Gebiete. Die Erlebnisse zu dokumentieren gehörte dazu. Auch Johann Wolfgang von Goethe hatte dieses Reisekonzept im Sinn, als er mit 37 Jahren in jenes Land aufbrach, wo "die Zitronen blüh'n". Lernen statt Urlaub war die Devise auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts. Während die Abenteuerhungrigen bis dahin vor allem in Europa geblieben waren, zog es sie nun verstärkt in die Ferne.
Die "Grand Tour" war immer wieder Romanthema. Zu den bekannteren Werken zählen "Zimmer mit Aussicht" und "Unterwegs nach Indien" von E.M. Forster sowie Paul Bowles' Maghreb-Texte. Und dann sind da die Dokumentarschreiber – wie Robert Byron, dessen "Weg nach Oxiana" 1937 erstmals erschien.
Dieses Reisebuch gilt als Klassiker. Denn Robert Byron, der glubschäugige Nachkomme des berühmten Spätromantikers Lord Byron (1788-1824), hatte sich schon zuvor als brillanter Kenner der Ziele europäischer Grand-Touristen ausgewiesen, mit Werken über Europa, Byzanz oder die Geburt westlicher Malerei. Die elfmonatige Reise, die er 1933 und 1934 unternahm – von Venedig über Zypern, Palästina, Syrien, Irak und Persien nach Afghanistan, zurück nach Persien, wieder nach Afghanistan und schließlich über die britische Kolonie Indien heim nach England – zeichnete eine Strecke vor, die heute einem breiten Trampelpfad gleicht. Zumindest abschnittsweise. Was zu Byrons Zeit keiner kannte, das steht heute in jedem Lonely Planet: Es ist der "Banana Pancake Trail", die Hostelroute der orientsüchtigen Backpacker.
Clash der Kulturen
Robert Byron ist Meister darin, sich amüsiert in sein Schicksal zu ergeben. Mit seinem Kompagnon Christopher Sykes ist Byron in einer Zeit unterwegs, in der die Autos noch Automobile hießen und in der Überlandtouren in den fernen Ländern einem Abenteuer gleich kamen, erst recht unmotorisiert. In Byrons Buch steht immer das Interesse am Alltag der Menschen in jenen damals unvorstellbar fremden Ländern im Vordergrund.
Die Wucht der Eindrücke rührt vor allem vom Stil: In dem Text vermischen sich die Genres in unglaublicher Fülle. So ist "Oxiana" ein Reisetagebuch mit den dafür üblichen stakkatohaften Einträgen. Allerdings versteht Byron es auf geniale Weise, in der Knappheit bildhafte Szenen hervorzurufen. Jedes Wort sitzt: "MS Maloja, 25. Juni. – Ein großes Schiff, 20.000 BRT*, durch ein pechschwarzes Meer stampfend. Gischtwolken; Salz und Schweiß und Langeweile allerorten. Das Geräusch von Würgen und ein leerer Speisesaal."
Aber daneben finden sich auch herrlich zynisch festgehaltene Szenen in Dialogform, versehen mit Regieanweisungen für Intonation, Mimik und Gesten der Sprechenden. Und dazu Passagen über den Clash der Kulturen, wie im Zusammenhang mit der überraschenden Festnahme seines Freundes Christopher Sykes in Teheran: "Auf wiederholte Anfragen wurde inzwischen auch ein Grund nachgeliefert, der – um den Außenminister zu zitieren – darin besteht, dass Mr. Sykes Gespräche mit Bauern führt. Dies kann, vermuten wir, nur eine versteckte Anspielung auf Christophers Gespräch mit Marjoribanks' Gärtner in Darbend sein." Bissiger kann man kaum durchblicken lassen, wie absurd man derlei Ansichten über das Miteinander der Kulturen und Klassen findet.
Wie sehr ihn das Zusammenspiel der Völker interessierte, zeigt sich auch anderswo; etwa wenn Byron – kein Wunder bei seiner Vorgeschichte – sein phänomenales Wissen über Architektur beweist: Denn ob er eine Moschee oder ein Grabmal beschreibt, der Reiseliterat analysiert gleichzeitig den Unterschied der Kulturen – und erklärt so nebenher das Wesen der Europäer/innen.
Schwer vorstellbar, wieso Byrons "Oxiana" Jahrzehnte in Vergessenheit versank. Im März 2014 aber wurde es in den "Extradrucken der Anderen Bibliothek" zum Glück wiederaufgelegt, dankbarerweise mit Leidenschaft für das Authentische: Reisefotos, von Byron selbst geschossen, bebildern die Aufzeichnungen und mitten im Buch gibt es ausklappbare Karten der Reiseroute, auf rauem, ungebleichtem Papier.
Backpacker-Bibel
Das Vorwort zu der deutschen Ausgabe stammt von dem großartigen britischen Reiseschriftsteller Bruce Chatwin, der in Byron seinen Meister fand: "Der Weg nach Oxiana" stellt er klar, dürfe "als das Werk eines Genies bezeichnet werden". Er habe das Buch vor langer Zeit zu einem "heiligen Text" erklärt: "Mein eigenes Exemplar, nach vier Reisen nach Zentralasien zerfleddert und fleckig, begleitet mich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr", schreibt er.
Chatwin spricht für eine große Gruppe von Menschen, die nach wie vor "Oxiana" im Gepäck mit sich führen, als Inspiration und als Vorbild. Denn die Bildungsreisenden von heute sind die Backpacker. "Dass Reisen bildet, ist in diesem Milieu stark verankert. Sie sehen sich nicht als Touristen", sagt die Anthropologin Jana Binder, die in ihrer Doktorarbeit vor ein paar Jahren die Kultur der Rucksackreisenden untersuchte. "Es ist eine neue Qualifizierungsstrategie, nach dem Motto: Uni-Abschluss, Auslandssemester, Praktika – das haben sie alle. Ich setze noch eins drauf." Und da unterwegs jedes Gramm im Rucksack gut überlegt sein will, hier ein Tipp: Ein Buch genügt vollauf. Byrons "Oxiana" kann man immer wieder lesen.
Robert Byron: Der Weg nach Oxiana (Extradrucke der Anderen Bibliothek 2014, 440 S., übers. von Matthias Fienbork, 24 €)
*BRT: Registertonne, eine veraltete Maßeinheit für Seeschiffe, entspricht 2,83 Kubikmeter
Links
Auf umdiewelt.de kann man Reiseberichte lesen und selber einstellen
Seite über den britischen Reiseschriftsteller Paul Bowles (engl.)
Interview in der Zeit mit Jana Binder, die ihre Doktorarbeit über Rucksacktouristen/innenschrieb (2007)
Anne Haeming schreibt für Print- und Onlinemedien. Sie lebt in Berlin.