Auch Großstädte haben so ihre Momente, in denen sie aus sich hinauszuwachsen scheinen. Berlin zum Beispiel. Wenn man dort am Müggelsee sitzt und das Auge schweifen lässt, dann kann es geschehen, dass der Blick einen unmerklich weiter zieht – über das Wasser und die beiden sanft gewellten Müggelberge, 88 und 114 Meter hoch. Was liegt wohl dahinter?
So ähnlich muss es den Lyrikern Björn Kuhligk und Tom Schulz gegangen sein, als sie vor ein paar Jahren im Strandbad Müggelsee mit einer Gruppe Jugendlicher ins Gespräch kamen. Die waren, wie sich herausstellte, nicht aus Berlin, sondern aus Brandenburg. Die Autoren, echte Großstadtpflanzen und jeweils auf verschiedenen Seiten der Berliner Mauer aufgewachsen, fragten, wie es denn dort so sei. In Brandenburg. "Dit willste nich wissen, Alta!" lautete die lapidare Antwort.
Das aber stimmte nun so gar nicht. Sei es der Blick über den See ins Unbestimmte, sei es die abwehrende Coolness dieser Replik: Die Autoren hatten Feuer gefangen. Und fassten einen Entschluss: Sie nahmen sich vor, Brandenburg besser kennenzulernen und zusammen ein Buch darüber zu schreiben.
Die Provinz wird lebendig
Brandenburg sei gar nicht überall so, wie man denke, stellen beide es bei einem Gespräch in einem Berliner Café energisch klar. Also, dass da eben nichts los sei. Die Stadt Brandenburg zum Beispiel, Brandenburg an der Havel, habe eine sehr lebendige Kneipen- und Jugendszene. "In anderen Städten ist es ähnlich", sagt Tom Schulz. "Brandenburg besteht ja nicht nur aus Dörfern."
In Brandenburg/Havel, so kann man es im Buch nachlesen, gibt es zudem den traditionsreichen Fußballverein "Stahl Brandenburg" und einen gewaltigen Dom, den die Autoren eigens zu einer Aufführung des Brahms-Requiems heimgesucht haben. "Natürlich haben wir uns oft gezielt Anlässe gesucht, zu denen wir irgendwo hingefahren sind", erklärt Björn Kuhligk das Reisekonzept. "Wir wollten immerhin ein Buch schreiben, also haben wir dafür gesorgt, dass auf jeden Fall ein bisschen was passieren würde."
So kam es, dass die Autoren Silvester einmal in Neuruppin verbrachten, weil der dortige Fontane-Fanclub immer am Tag zuvor den Geburtstag des berühmtesten Neuruppiners begeht, und fast so etwas wie Freundschaft schlossen mit dem Kulturmanager der Stadt. Und an einem frostigen Ostersamstag saßen sie, ziemlich unterkühlt, im "ersten Kahn des Jahres", als in Lübben im Spreewald die Kahnsaison eröffnet wurde.
Und was ist mit Fontane?
Aber halt! Fontane? Das Buch von Kuhligk und Schulz trägt den Untertitel "Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Haben sich die beiden Autoren eigentlich nur beim Titel an Theodor Fontanes fünfbändigen, vornehmlich kulturgeschichtlich interessierten "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" orientiert – oder sind sie dieselben Stationen angefahren wie der berühmte Kollege? Und was bedeutet der Begriff "Wanderung", wenn man, wie aus der Lektüre klar hervorgeht, doch überwiegend auf vier Rädern unterwegs ist? Nur ein einziger richtiger Fußmarsch kommt im Buch vor.
Björn Kuhligk sagt: "Fontane ist gar nicht gewandert! Er hat die ganze Zeit in der Kutsche gesessen." Schulz ergänzt: "Wir hatten häufig einen Mietwagen, waren aber auch auf Fahrrädern unterwegs." Das Unterwegssein mit dem Rad sei überhaupt das Beste gewesen: "Man ist einfach näher dran an allem, kann jederzeit anhalten." Und natürlich hätten sie das Werk von Fontane keineswegs komplett gelesen ("all diese Schlösser!"), aber sich geographisch schon grob an ihm orientiert. An fast allen besuchten Orten war Fontane einst nämlich auch.
Kann man eigentlich schon vom Reisen sprechen, wenn man von Berlin aus nach Brandenburg fährt? "Natürlich!" rufen beide wie aus einem Mund. Schulz: "Reisen fängt damit an, dass man sich auf den Weg macht, dass man das vertraute Umfeld verlässt." "Es fängt damit an, dass man woanders übernachtet", ergänzt Kuhligk. "Und zum Reisen gehört, dass man ein paar Tage unterwegs ist. Wir haben uns extra immer mehrere Tage Zeit genommen."
Dieses Sichzeitnehmen merkt man dem Buch an. Auch, dass die Autoren genau hingehört haben. Viele Dialoge sind eingeflossen in ihre Schilderungen von Land und Leuten; darunter Gesprächsfetzen, die sie den Personen am Nebentisch abgelauscht haben, vor allem aber Unterhaltungen, die sie bewusst gesucht haben – mit schrägen Vögeln und braven Bürgern, mit fleißigen Geschäftsleuten und frustrierten Arbeitslosen. Dialoge, die lautgetreu im Dialekt wiedergegeben werden – und die Brandenburger berlinern weitaus heftiger als die Berliner selbst.
Momentaufnahme eines Bundeslands
Kuhligk und Schulz haben mit ihrem Nahreisebuch weder einen Reiseführer geschrieben noch eine Kulturhistorie im Fontaneschen Sinne. Was den beiden Lyrikern geglückt ist, ist eine Art atmosphärischer Momentaufnahme eines Bundeslands im Osten Deutschlands gut zwanzig Jahre nach der Wende. Neben Landschafts- und Ortsbeschreibungen und den O-Tönen der Bevölkerung kommen auch die Autoren selbst im Text vor. Leichte Irritationen angesichts schwieriger Gesprächspartner werden ebenso wenig verschwiegen wie körperliches Unbehagen aufgrund von Hitze, Kälte oder Insektenansturm. Man kann dieses subjektive Buch prima lesen, ohne eine Ahnung von oder ein Vorinteresse für Brandenburg zu haben. Aber sollte man dann doch mal dorthin kommen, könnte es passieren, dass einen das Gefühl beschleicht, man sei hier schon mal gewesen.
Ob sie denn nach all den Fünf-Tages-Trips nun erst einmal Pause machten vom Brandenburger Land, muss man die Großstadtdichter noch fragen. Absolut nicht, versichert Kuhligk. Er mache immer noch Ausflüge ins Umland. Derzeit ohne Übernachten. Schulz sinniert: "Also, ein Sehnsuchtsort ist Brandenburg für mich nicht geworden. Aber nach ganz bestimmten Orten sehne ich mich schon." Nach der unberührten Landschaft des Oderbruchs zum Beispiel oder dem Wittwesee bei Rheinsberg.
In einem sind beide sich mehr als einig: Was Brandenburg als Reiseziel wirklich attraktiv mache, seien weder die Kultur noch die Schlösser, die Fontane so ausdauernd beschrieb, sondern: "Die Natur!" Ja klar: "Es gibt andere Länder, wo richtig was los ist / Und es gibt Brandenburg", wie Rainald Grebe weiß, der berühmte Brandenburg-Experte unter den deutschen Liedermachern. Aber womit dieses Bundesland dafür eben richtig protzen kann, ist seine wunderbare, eiszeitlich geprägte Landschaft mit ihren vielen, vielen Seen. Für Berliner Stadtindianer auf jeden Fall das perfekte Nahreisegebiet.
Björn Kuhligk/Tom Schulz: Wir sind jetzt hier. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Hanser Berlin 2014, 272 S., 17.90 €)