Der Fall
Am Abend des 28. Oktober 2008 wird die 87-jährige Lieselotte Kortüm aus dem oberbayerischen Rottach-Egern bekleidet und tot in ihrer Badewanne aufgefunden. Bei der Untersuchung der Leiche entdeckt der Gerichtsmediziner zwei Blutergüsse am Kopf. Die Kriminalpolizei schließt daraus, dass Frau Kortüm gewaltsam getötet wurde und nicht, wie zunächst angenommen, in die Wanne gestürzt und darin ertrunken ist. Verdächtigt wird der Hausmeister der Wohnanlage, Manfred Genditzki. Er bestreitet die Tat, wird jedoch schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt.
Genditzki, der sich neben seinem Job als Hausmeister um Frau Kortüm kümmerte, holte sie am Mittag des 28. Oktober im Krankenhaus ab, wo sie wegen Durchfalls behandelt worden war, und brachte sie nach Hause. Im Gerichtsurteil steht, er habe danach noch seine eigene Mutter im Krankenhaus besuchen wollen. Deshalb sei Frau Kortüm eifersüchtig geworden und habe einen Streit angefangen. Genditzki habe sie daraufhin geschlagen oder geschubst und so verletzt, dass er Angst vor einer Anzeige hatte. Er habe sie dann in der Wanne ertränkt, um einen häuslichen Unfall vorzutäuschen.
„Hochgradig unwahrscheinlich“ nennt die Münchner Anwältin Regina Rick diesen Tatablauf. Sie hat im Juni 2019 einen Wiederaufnahmeantrag gestellt: Sie will, dass noch einmal neu verhandelt wird und sie neue Beweise für Genditzkis Unschuld vorbringen kann. Es gibt auch eine Petition, die eine Wiederaufnahme fordert. Die mehr als tausend Menschen, die sie unterschrieben haben, sind wie Rick überzeugt: Dieser Mord ist nie passiert.
Was ist (die) Wahrheit?
In seinem Buch „Die Wahrheit vor Gericht“ schreibt der Strafverteidiger Klaus Volk: „Ich würde nie beschwören, dass ich auch nur in einem einzigen meiner Fälle die ganze Wahrheit erfahren hätte. Ich will aber darauf bestehen, dass es meist gerecht zugegangen ist.“ Wahrheit und Gerechtigkeit hängen also nicht unmittelbar miteinander zusammen. Auch die Rechtswissenschaftlerin und -philosophin Frauke Rostalski von der Universität Köln sagt: „Die Wahrheit ist nicht zwingend erforderlich für die Herstellung von Gerechtigkeit.“ Ein Urteil sei dann gerecht, wenn wir als Gesellschaft sagen könnten: „Auf dieser Grundlage können wir damit leben, auch wenn wir doch einen Fehler gemacht haben sollten und es eigentlich anders war.“
Im Grundsatz gilt: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Genditzkis Anwältin ist der Meinung: In seinem Fall überwiegen die Zweifel. Das Urteil sei „willkürlich“ und „völlig aus der Luft gegriffen“. Sie glaubt, dass die Wahrheit ganz anders aussieht.
Aber welche Definition von Wahrheit gilt hier eigentlich? Das Bundesverfassungsgericht sagt, im Strafrecht werde die „materielle Wahrheit“ erforscht, das bedeutet: die Übereinstimmung mit den Tatsachen und der Wirklichkeit. Aber Frauke Rostalski sagt, es sei unrealistisch, vor Gericht diese „materielle Wahrheit“ herausfinden zu wollen. Es gehe vielmehr darum, die „prozessuale Wahrheit“ zu ergründen: die Erkenntnis, die möglich ist, wenn alle Regeln im Verfahren eingehalten werden.
Die Beweise #1: Urkunden
In § 261 der Strafprozessordnung heißt es: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“ Zur Rekonstruktion des Falls sind im Strafprozess vier Beweismittel erlaubt: Zeugen, Gutachten von Sachverständigen (z. B. von einer Psychologin oder einem Gerichtsmediziner), Urkunden und Augenschein (z. B. Fotos oder Videoaufnahmen).
„Urkunden sind besonders verlässlich“, sagt die Rechtsprofessorin Frauke Rostalski. Denn sie bilden die Wirklichkeit objektiv ab. In diesem Fall belegen Telefonprotokolle, dass Genditzki an Frau Kortüms Todestag um 14:57 Uhr zweimal kurz versucht hat, ihren Hausarzt zu erreichen, und um 15:09 Uhr ihren Pflegedienst anrief, um Bescheid zu sagen, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Und es gibt einen Kassenzettel, der zeigt, dass Genditzki um 15:30 Uhr im Supermarkt eines Nachbarorts eingekauft hat.
Diese Beweismittel belegen Tatsachen. Die lassen sich allerdings unterschiedlich interpretieren. Das Gericht sagt: Genditzki hat Frau Kortüm im Streit auf den Kopf geschlagen oder sie gestoßen. Sie wurde bewusstlos oder war benommen, darum wollte er ihren Hausarzt anrufen. Aber aus Angst, sie könnte ihn wegen Körperverletzung anzeigen, legte er direkt wieder auf. Dann ertränkte er die Frau in der Wanne, um einen Unfall vorzutäuschen. Anschließend rief er den Pflegedienst an und kaufte ein, um sich ein Alibi zu verschaffen.
Diejenigen, die an dem Urteil zweifeln, sagen: Um 14:57 Uhr lebte Frau Kortüm noch, um 15:09 Uhr soll sie tot gewesen sein? Zwölf Minuten, um eine erwachsene Frau ins Bad zu schleppen, in die Wanne zu heben und zu ertränken? Das halten sie für sehr unwahrscheinlich.
Die Beweise #2: Gutachten
Im Prozess gegen Genditzki im Jahr 2010 war vor allem das Gutachten des Gerichtsmediziners Wolfgang Keil wichtig. Er fand die Blutergüsse unter Frau Kortüms Kopfhaut. Und er simulierte mit einem selbst gebastelten Badewannenmodell, wie sie in die Position gekommen sein könnte, in der sie gefunden wurde. Keils Ergebnis: Ohne äußere Einwirkung sei das „höchst unwahrscheinlich“.
Genditzkis Anwältin Regina Rick hat neue Gutachten anfertigen lassen. Eines, das ausgehend von der Wassertemperatur den Todeszeitpunkt neu eingrenzt – auf einen Zeitpunkt lange nachdem Genditzki die Wohnung verlassen hat. Und eine Computersimulation, die zeigt, dass es gut sein könnte, dass Frau Kortüm ausgerutscht und dann auf der rechten Seite in der Wanne gelandet ist, mit dem linken Bein links über dem Wannenrand. Diese Gutachten seien damals noch nicht möglich gewesen, sagt Rick, die Technik habe in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Sie geht davon aus, dass man die Wirklichkeit heute präziser rekonstruieren kann. Doch die Staatsanwaltschaft, die über den Wiederaufnahmeantrag entscheiden muss, will die neuen Gutachten nicht gelten lassen. Welche Seite recht hat, muss nun die 1. Strafkammer des Landgerichts München I prüfen.
Die Beweise #3: Zeugen
Zeugen seien im Vergleich zu Urkunden oder Gutachten weniger verlässlich, sagt Frauke Rostalski von der Uni Köln, „weil oft Erinnerungslücken oder Wahrnehmungseinschränkungen vorliegen“. Selbst wenn Zeugen die Wahrheit sagen – wozu sie vor Gericht verpflichtet sind –, kann es sein, dass ihre Aussage nicht der Wirklichkeit entspricht. Oder anders gesagt: Ein und dieselbe Wirklichkeit kann verschiedene Wahrheiten beinhalten, je nachdem, wer über sie spricht.
Im Prozess gegen Genditzki haben Zeugen ausgesagt und medizinische Protokolle gezeigt, dass Frau Kortüm in der Vergangenheit häufiger gestürzt ist. In ihrer Krankenakte waren in den Monaten vor ihrem Tod aber keine Stürze mehr dokumentiert. Unter anderem darum schloss das Gericht einen Unfall aus.
Eine Frage während der Verhandlung war, warum Frau Kortüm überhaupt an der mit Wasser gefüllten Wanne gestanden haben soll. Eine Zeugin hatte angegeben, dass sie nie badete. Die Verteidigung sagte: Sie wollte Wäsche einweichen, die durch ihren Durchfall schmutzig geworden war. Das Gericht hielt das für ausgeschlossen, weil „ausschließlich der Angeklagte behauptete, Frau Kortüm habe manchmal Wäsche in der Badewanne eingeweicht“.
Der Wiederaufnahmeantrag von Regina Rick stützt sich, neben den neuen Gutachten, auch auf eine neue Zeugin. Die hat Frau Kortüm früher sehr gut gekannt und sagt, sie habe oft schmutzige Wäsche in der Wanne eingeweicht, bevor sie in die Waschmaschine kam. Das sei ihre „Macke“ gewesen. Diese Zeugin sagt auch, dass Frau Kortüm oft plötzlich in Ohnmacht gefallen sei. Einmal habe sie sie bewusstlos in der vollen Badewanne gefunden. Die Staatsanwaltschaft hält die Zeugin aber nicht für geeignet, weil sie Frau Kortüm vor deren Tod lange nicht mehr gesehen hat.
Das Motiv
Eine wichtige Frage, um in einem Strafprozess die Wahrheit zu ergründen, ist die nach dem Motiv: Warum sollte Manfred Genditzki Lieselotte Kortüm umgebracht haben? Die Staatsanwaltschaft sagte anfangs, Genditzki habe Geld unterschlagen und Frau Kortüm habe ihn erwischt, darum der Streit und der Mord. Aber die Beweisaufnahme ergab, dass er kein Geld unterschlagen hat. Darum schwenkte die Staatsanwaltschaft auf das neue Motiv um: Frau Kortüms Eifersucht auf Genditzkis Mutter, darum der Streit und der Mord. Im Mai 2010 wird Genditzki verurteilt, aber der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf, weil man nicht mitten in der Verhandlung das Motiv wechseln könne. Also „aus verfahrensrechtlichen Gründen“ – denn die „prozessuale Wahrheit“ kann ja nur ergründet werden, wenn alle Regeln eingehalten werden. Es wurde neu verhandelt, mit dem zweiten Motiv als Grundlage. Und Manfred Genditzki wurde erneut verurteilt.
Der Verurteilte
Ist Manfred Genditzki schuldig oder nicht? Er sagt, er war es nicht. Aber es liegt nicht an ihm, was am Ende als „prozessuale Wahrheit“ im Urteil steht. Das wäre noch nicht einmal so, wenn er den Mord gestehen würde. Das Geständnis, schreibt Klaus Volk, werde in unserer Gesellschaft „weit überschätzt“. Denn eigentlich ist es nur ein Beweis unter vielen. Anders als Zeugen sind Angeklagte nicht mal verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Sie haben das Recht, zu schweigen. Sie dürfen sogar lügen – das ist zwar im Strafrecht nicht explizit erlaubt, aber eben auch nicht verboten.
Allein daran, dass die einen Manfred Genditzki für unschuldig halten und die anderen nicht, kann man sehen: Es gibt die eine Wirklichkeit, die Genditzki und Lieselotte Kortüm erlebt haben. Aber die eine Wahrheit über diese Wirklichkeit gibt es nicht.
Update, 20. August 2022
Am 12. August 2022 wurde Manfred Genditzki aus der Haft entlassen, weil das Landgericht München I das Verfahren wieder aufnehmen lassen will: Die neuen Sachverständigengutachten, heißt es, seien in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet, zu einer für Genditzki günstigeren Entscheidung zu führen. Diese Erkenntnisse seien erst aufgrund der technischen Entwicklung der vergangenen Jahre möglich geworden. Daher handele es sich um neue Beweismittel im Sinne des Wiederaufnahmerechts. Ein Zeitpunkt für die erneute Hauptverhandlung steht noch nicht fest.