Desmond Tutu, ehemaliger Erzbischof von Kapstadt, war schwer beladen, als er am 29. Oktober 1998 vom südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela empfangen wurde. Im Gepäck hatte er fünf dicke Bände – den Abschlussbericht der „South African Truth and Reconciliation Commission“, kurz SATRC. Auf rund 3.000 Seiten war darin die Arbeit der südafrikanischen „Versöhnungs- und Wahrheitskommissionen“ festgehalten, die Tutu leitete.
Eingesetzt worden war die Kommission, um ein möglichst vollständiges Bild der Menschenrechtsverletzungen während der Apartheid von 1960 bis 1994 zu erarbeiten. Über 20.000 Opfer meldeten sich und legten Zeugnis ab, allein ihre Namen füllten rund 1.000 Seiten des Berichts. 2.000 Personen kamen bei öffentlichen Anhörungen, die im Radio und Fernsehen übertragen wurden, zu Wort. Für viele Betroffene hatte das eine geradezu selbstheilende Wirkung: Oft war es das erste Mal, dass sie öffentlich über die Verbrechen sprachen, die ihnen oder Angehörigen widerfahren waren.
Während der Apartheid waren viele Südafrikaner Gewalt und Willkür ausgesetzt
„Eine Therapie für die Nation“ nannte der damalige südafrikanische Verfassungsrichter Richard Goldstone das Wirken der Kommission. Auf dieses friedfertige Vorgehen hatte man sich nach den ersten freien Wahlen von 1994 geeinigt, als Justizminister Abdullah Omar erklärte, es werde in Südafrika weder eine Generalamnestie geben noch „Nürnberger Prozesse“ – in Anspielung auf die Gerichtsprozesse gegen hochrangige Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit einigen Todesstrafen endeten. Stattdessen kündigte er die Einrichtung einer Wahrheitskommission an – mit dem Ziel „Versöhnung“ und „nationale Einheit“. Tutu nannte auch „Vergebung statt Vergeltung“ als Leitmotiv.
Unumstritten war dieser Ansatz nicht. Denn untersucht wurde nicht allein der Terror des auf der sogenannten Rassentrennung beruhenden Apartheidsystems, sondern auch Verbrechen ihres Gegners, der Befreiungsbewegung des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), zu der unter anderem Nelson Mandela gehörte. Kritik gab es auch, weil nur vergleichsweise wenigen Opfern eine Entschädigung (von maximal 20.000 Euro) für ihre Leiden zugesprochen wurde und der Kommission nur zweieinhalb Jahre zur Verfügung standen, um Tausende Fälle zu untersuchen. Dafür war die SATRC mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Sie konnte Tätern sogar Strafmilderung oder gar Straferlass gewähren, sofern diese vollständig und wahrheitsgemäß über die ihnen zur Last gelegten Verbrechen Rechenschaft ablegten. Von knapp 7.100 Amnestiegesuchen wurden schließlich 1.160 gebilligt.
Rund 7.000 Verbrechen konnte die SATRC aufklären. In ihrem Bericht schrieb sie, dass der Staat im Untersuchungszeitraum „der Hauptverantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen“ gewesen sei. Im Rückblick lässt sich sagen: Die SATRC hat die Nation zwar nicht „versöhnt“, sie war aber ein wichtiger, vielleicht notwendiger Schritt im noch nicht abgeschlossenen Prozess auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Aussöhnung.
Die südafrikanische Wahrheitskommission ist zwar als bekannteste ihrer Art in die Geschichte eingegangen, entstanden ist dieses Konzept jedoch in Lateinamerika zu Beginn der 1980er-Jahre – als Reaktion auf die in vielen Ländern des Kontinents überwundenen Diktaturen und deren Verbrechen. So ließ man in Argentinien und Chile Oppositionelle und andere Gegner massenhaft verschwinden. Die 1983 in Argentinien gegründete „Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas“ (CONADEP) trug dieses Verbrechen schon in ihrem Namen („Desaparición“, dt.: Verschwinden). Ihr Bericht mit dem Titel „Nunca más“ (Nie wieder) legte die erste umfassende Darstellung der Repressionen der Militärdiktatur (1976 bis 1983) vor, die eine vorläufige Zahl von knapp 9.000 Opfern enthielt.
Die „Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación“ (CNVR) in Chile war schließlich 1990 die erste, welche die Bezeichnungen „Wahrheit“ und „Versöhnung“ im Namen trug. Das Beispiel Chile zeigt aber auch die widerstreitenden Interessen, denen sich die Kommissionen oft stellen müssen. Denn das Ende der Militärdiktatur (1973 bis 1990) war hier durch eine Volksabstimmung im Oktober 1988 eingeleitet worden, bei der sich noch rund 45 Prozent der Abstimmenden für den Verbleib des Diktators Augusto Pinochet als Staatschef aussprachen. „Am Tag, an dem einer meiner Männer angefasst wird, ist es vorbei mit dem Rechtsstaat“, drohte Pinochet, der weiterhin Oberkommandierender des Heeres war, ganz unverblümt. Trotzdem war die Tätigkeit der CNVR mit ihrem umfassenden Ansatz („Die ganze Wahrheit und so viel Gerechtigkeit wie möglich“) und der Betonung auf der nationalen Aussöhnung ein erster Erfolg.
Wobei das, was genau unter Versöhnung verstanden wird, immer kulturabhängig ist. Das deutsche Wort Versöhnung leitet sich etwa von „Sühne“ ab. Dem liegt die katholisch-christlich geprägte Idee zugrunde, dass Täter bereuen und eine Wiedergutmachung leisten. Die Schuld soll durch eine Strafe abgegolten werden.
Mit Wahrheitskommissionen bekommen Opfer nicht nur Prozesse, sondern eine Stimme
Nach der Leitidee von „Ubuntu“ – einer Philosophie, die in allen Bantu-Sprachen Afrikas verbreitet ist – gehört der Einzelne hingegen zu etwas „viel Größerem“, wie Erzbischof Tutu es ausgedrückt hat. Ubuntu ist demnach die Bereitschaft aller, etwas für die Heilung der Gemeinschaft zu tun, wenn diese durch Einzelne verletzt wird. Ähnlich äußerte sich auch Cynthia Ngewu, die Mutter eines von der südafrikanischen Polizei vorsätzlich erschossenen Widerstandskämpfers. Wenn Versöhnung bedeute, dass der Mörder ihres Sohnes wieder ein Mensch werde, sagte sie, „sodass auch ich, dass wir alle unsere Menschlichkeit wiedererlangen“, dann sei sie damit einverstanden.
Seither wurden weltweit zahlreiche weitere Wahrheitskommissionen ins Leben gerufen. Gerichtsverfahren ersetzen können sie nicht, dafür fehlen ihnen in der Regel die Befugnisse. Dennoch sind sie spätestens seit der Jahrtausendwende, nun oft unter Beteiligung der Vereinten Nationen, zu einem Standardinstrument bei der Untersuchung schwerer Menschenrechtsverletzungen geworden. Ein Instrument, das den Opfern eine Stimme verleiht – als ergänzendes Mittel zur strafrechtlichen Aufarbeitung.
Und allmählich geraten weiter zurückliegende Verbrechen, etwa aus der Zeit des Kolonialismus, in den Blick. Im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste in Belgien, bei denen auch Statuen von König Leopold II. beschädigt wurden, hat das Parlament beschlossen, dass eine Wahrheitskommission das besonders unmenschliche Regime der Belgier im einstigen „Freistaat Kongo“ untersuchen soll. Zwischen 1885 und 1908 hatte der „Blut-König“ Leopold II. das Land zu seiner persönlichen Kolonie gemacht; bis zu zehn Millionen Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung, bezahlten das mit ihrem Leben.
Zur Aufklärung des von Truppen des deutschen Kaiserreichs begangenen und von der Bundesregierung so eingestuften Völkermords an den Herero und Nama in Namibia von 1904 bis 1908 treibt derweil die deutsche NGO „European Center for Constitutional and Human Rights“ (ECCHR) die Einsetzung einer Wahrheitskommission voran. Auch hier geht es nicht um eine schon feststehende Wahrheit, sondern um die kollektive Verständigung der Gesellschaft über Geschehnisse in der Vergangenheit. Und egal wie lange ein Verbrechen zurückliegt, die Wahrheit hat kein Verfallsdatum.
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