Als ein Journalist einmal Angela Merkel fragte, was sie an Deutschland mag, sagte sie: „Kein Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen.“ Was man auch so interpretieren kann, als sei Deutschland noch ganz dicht. Aber sehen das Touristen auch so? In die Hauptstadt unseres Fensterlands kamen im letzten Jahr so viele Touristen aus dem Ausland wie noch nie, gut elf Millionen. Sie alle sind in Berlin auf der Suche nach irgendwas: Manche suchen die Vergangenheit am Checkpoint Charlie, manche die Gegenwart im Techno-Club Berghain, und manche von ihnen suchen auch die Zukunft.
In diesem Berlin steht das wombat’s, einer von fast 800 Beherbergungsbetrieben in der Stadt. Chinesen schlafen hier im Stockbett über Italienern, Koreaner teilen sich ein Zimmer mit Iren. Hier sagt man nicht Berlin, sondern „Böhr-Lynn“. Auf den Straßen und in den Clubs der Stadt verschmelzen sie zu einer Weltgemeinschaft. An einem Wochenende im Mai waren wir dabei.
Samstag, 14 Uhr
Tom war auch schon letzte Nacht da. Nur erinnern kann er sich im Moment nicht. Schwarzes T-Shirt, Hornbrille, Bart: Tom sieht aus wie ein Berliner Hipster. Aber Tom kommt aus Israel. Er sitzt auf seinem Stockbett und grübelt, wo er seinen Freund Devin gelassen haben könnte. Gestern waren sie noch zusammen unterwegs, ein Bierchen hier, ein Bierchen da, erzählt er. So gut man sich in Berlin verlieren kann, so leicht geht man eben auch verloren.
Warum er nach Berlin gekommen ist? „Das Leben hier ist nur halb so teuer wie in Tel Aviv“, sagt Tom. „Und ich fühl mich hier viel sicherer. Die Leute sind freundlich. Vielleicht ziehe ich auch hierher.“ Und ist das kein Problem für deine Familie, wenn du nach Deutschland ziehst, dessen Regime im Dritten Reich Millionen Juden ermordet hat? „Was? Nein, Mann! Mein Vater hat mir sogar vorgeschlagen, nach Berlin zu ziehen. Ich hab die Tel Aviver satt.“ Jetzt muss Tom los, einkaufen, morgen ist ja Sonntag, und alles hat zu. Denkt Tom. „Religion ist einfach Mist“, sagt er und geht.
Samstag, 17 Uhr
Bis eben waren im Zimmer noch zwei Betten frei. Nun schieben Randy und Hank, zwei Brüder aus den USA, ihre Rollkoffer durch die Tür. Touristen oder Arbeit? „Beides“, sagt Randy. „Ich wollte mir mal die Start-up-Szene angucken.“ Randy ist 23 Jahre alt und arbeitet in New York in der IT-Branche. Er will wissen: Was machen die Internet-Start-ups in Berlin anders? Was machen sie besser? „Aber natürlich will ich auch Berlin sehen!“ Und schon geht es hinaus in den frostigen Maiabend.
Ein wenig laufen sie durch Berlin wie staunende Kinder durch ein Museum. „Wie weit ist es nach Westberlin?“, fragt Randy. „Wo ist der längste Teil der Mauer?“, will Hank wissen. Sie schlendern durch die Hinterhöfe am Prenzlauer Berg. „Wow! Und ich dachte immer, in L.A. gäbe es viel Graffiti“, sagt Hank. Eine Antifa- Flagge hängt aus einem Fenster, im Erdgeschoss steigt ein Benefizkonzert für syrische Gefangene. Ein Mann mit John-Lennon-Brille verkauft die Karten. Gibt es irgendetwas, was ihnen an Deutschland bisher nicht gefallen hat? „Ja. Der Flughafen.“
Samstag, 19 Uhr
In der Bar des Hostels, mit Blick auf die Skyline von Berlin, hat die Party schon begonnen. Ein Dutzend Gäste steht auf den Bänken und schmettert Britney Spears und Bryan Adams, die Superhits der 80er, 90er und von heute. Maria arbeitet hinter der Bar des Hostels und hat fast immer Stöpsel in den Ohren. „Das gehört hier zur Grundausstattung“, sagt sie. „Iren und Briten singen am lautesten. Australier singen leiser, reden aber dafür laut. Kanadier singen nicht.“ Maria ist aus der Slowakei und kam einst als Touristin nach Berlin, für ein Konzert ihrer Lieblingsgeigerin. Sie wusste sofort: Hier will ich hin. „Ich hab mich von Anfang an zu Hause gefühlt.“
Samstag, 24 Uhr
Randy und Hank unterhalten sich mit zwei Irinnen. Patrice, 28, dunkle Haare, Sommersprossen, ist zum ersten Mal in Berlin. Sie war schon kurz nach der Landung überrascht. „Als ich meinen Pass zeigte, haben die Beamten gar nichts gesagt. In den USA wird man ja verhört. Und hier? Kein einziges Wort!“ Überhaupt seien die Deutschen viel entspannter, als sie erwartet hatte. Was ihr sonst gefallen hat? „So viele kleine Läden, kaum große Filialen. Ich war nur leider viel zu verpennt, um mir die Klamotten anzugucken.“ Am Vortag war sie bis 9 Uhr morgens in Friedrichshain unterwegs.
Sonntag, 1 Uhr
Timothy, 24, Elektriker aus Australien, steht in einer Bar in Mitte. Er tourt gerade durch Europa: erst Rotterdam, dann Amsterdam, jetzt Berlin. „Das Pub Crawl habe ich schon hinter mir“, sagt Tim und zeigt auf sein orangefarbenes Bändchen am linken Handgelenk. Das „Pub Crawl“ heißt so, weil man sinngemäß von einer Bar zur nächsten robbt. In Wahrheit hätte man dafür kaum Zeit, so viele Bars besucht man in wenigen Stunden. „Was mir in Deutschland auffällt“, sagt Tim, „wohin man auch guckt, überall stehen Leute und pinkeln.“
Dann also Döner im Freien. In der vierten Bar legt Hank irgendwann den Kopf auf die Brust und dämmert langsam weg.„Gibt es eigentlich viele Türken in Deutschland?“, fragt Randy und guckt verwundert, als er die alte Geschichte von den sogenannten Gastarbeitern hört. „In den USA giltst du ab der zweiten Generation als Amerikaner, egal wo deine Eltern herkamen.“
Sonntag, 3 Uhr
In der Simon-Dach-Straße in Friedrichshain reiht sich eine Bar an die andere, dazwischen Drogendealer und Döner. Spaziergang durch die nahen Fabrikhallen, hinter deren bröckeligen Fassaden die Club-Beats wummern. „Techno-Strich“ heißt die Gegend bei Berlinern. „Hier sieht es ja aus wie in Detroit“, sagt Randy. Er und Hank gehen in eine Bar und wieder raus: verqualmt. Sie gehen in die zweite: verqualmt. Eigentlich wollen sie nur eine Kleinigkeit essen. „Hier riecht es auch nach Zigaretten“, sagt Hank und drängt in der dritten zum Gehen. „Ist Rauchen hier etwa erlaubt?“, fragt er und überlegt kurz. „Ich glaube, die einzigen Raucher, die ich noch kenne – das sind alles Europäer. In den USA ist das überall verboten.“
Sonntag, 11 Uhr
Noch mal zum Brandenburger Tor, einem der Hauptziele der Touristen in Berlin. In der U-Bahn slawische Sprachfetzen. Polnisch? Russisch? Ukrainisch! Vier Freunde aus Kiew, vier Studenten. „Dieses Ossi-Wessi-Ding in Berlin, das ist schon ein bisschen komisch“, sagt Olga, 20. Ihre drei Freunde laufen wenig später ungeduldig über den Pariser Platz. „Das mit der Geschichtskultur, das kriegt ihr wirklich gut hin. Für Touristen sind diese ganzen Denkmäler ein starkes Symbol.“ Gerade wird eine Bühne aufgebaut für irgendwas, wie immer vor dem Brandenburger Tor. „Allerdings redet ihr die ganze Zeit über die Arbeit. Selbst in der Bar! Na ja. Vielleicht ist das ja typisch für gut organisierte Menschen.“
Sonntag, 13.30 Uhr
Spätes Frühstück: kleine Augen über großen Tellern. Die Berliner Bedienung spricht Türkisch. Frederico spricht Italienisch. Er ist Mitte 20 und studiert Bauingenieurwesen in Brescia. Seine schwarzen Haare trägt er wie David Beckham, als der noch Tore schoss: angedeuteter Iro. Allzu viele Deutsche, sagt er verschämt, habe er ja noch nicht getroffen. „Aber wenn, dann hatten die alle ein Bier in der Hand.“ Was ihm noch aufgefallen ist? Hm. „Hier gibt es Restaurants aus so vielen Ländern. In Italien gibt es ja fast nur Italiener.“ Gefällt’s ihm? „Vielleicht komme ich noch mal her, wenn ich mein Auslandsjahr absolviere. In Italien sieht es ja gerade nicht so toll aus. Es gibt zu viele Ingenieure. Ihr braucht doch Ingenieure, oder?“ Brauchen wir. Vor allem solche, die Flughäfen bauen können. Manchmal ist es eben auch die Stadt, die sucht.