Ende Oktober läuft die Fristverlängerung ab, dann wird Großbritannien nicht mehr Teil der EU sein. Das Problem? Es gibt kein Abkommen über die Scheidung zwischen den beiden Vertragspartnern. Die (mittlerweile Ex-)Premierministerin Theresa May hatte ihr EU-Abkommen mehrmals nicht durchs britische Parlament bekommen.
Unter der Führung des neuen Premiers Boris Johnson bereitet sich die Insel nun auf einen ungeordneten Brexit, das sogenannte No-Deal-Szenario, vor. Einige Experten sind der Meinung, dass das alles ein Bluff der britischen Regierung ist, um Verhandlungsspielraum mit der EU zu gewinnen. Falls es das aber nicht ist, hätte ein No-Deal-Szenario möglicherweise folgende Konsequenzen:
Fisherman’s Friend: Lebensmittelpreise und mehr Fischfang
Für Briten könnte der Einkauf im Supermarkt teurer werden, importieren sie doch knapp 30 Prozent ihrer Lebensmittel aus der EU. All diese Waren könnten dann mehr kosten, wenn Großbritannien sich entscheidet, Zölle darauf zu erheben. Schon jetzt investiert die Regierung in mehr Hafenpersonal, Lagerkapazitäten und zusätzliche Lebensmittelbestände. Denn wie ein geleaktes Regierungsdokument verrät, geht man in London im Falle eines No Deal von Engpässen bei Medikamenten, Benzin, Nahrungsmitteln und einem Chaos an den Häfen aus.
Die EU-Bürger könnten übrigens ein Fischproblem bekommen: EU-Fischerboote dürften nicht mehr in britischen Gewässern fischen, was ein Vorteil für die britische Fischerei ist. Die verkauft einen Großteil ihres Fangs an EU-Länder, müsste dafür aber in Zukunft Zölle zahlen. Allerdings ist sie davon abhängig, dass der Transport in den Häfen zügig vonstattengeht – über Grenzen hinweg.
Das Dauerthema: die irische Grenze
Im Fall des No-Deal-Brexits entsteht eine EU-Außengrenze zwischen Irland, einem Mitglied der EU, und Nordirland, das mit dem Vereinigten Königreich austreten würde. Das heißt erst mal: generelle Grenzkontrollen für Personen und Waren. Umstritten wäre die Grenze vor allem politisch, weil sie den 1998 mühsam errungenen Frieden zwischen den beiden irischen Staaten gefährden könnte.
No-Deal-Brexit bedeutet: ein Austritt Großbritanniens aus der EU, ohne dass vorher eine Einigung mit der EU erzielt wird, wie es mit Politikbereichen weitergeht, die bisher durch EU-Recht geregelt werden. Erst einmal fällt der Handel Großbritanniens dann unter die Regulierungen der Welthandelsorganisation: Die untersagen die Bevorzugung einzelner Handelspartner, zum Beispiel durch niedrige Zölle, und verlangen ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Handelsschema. Langfristig führt das No-Deal-Szenario vermutlich zu sehr vielen Deals, wenn alle Unterbereiche im Austausch mit der EU und die britischen Handelsbeziehungen mit außereuropäischen Staaten einzeln ausgehandelt werden müssen.
Die noch von der EU und May geplante Backstop-Regelung würde die Grenze vorübergehend offen lassen, was allerdings bedeutet, dass Großbritannien übergangsweise in der Zollunion und im EU-Binnenmarkt bleibt – und darauf möchte sich der britische Premierminister Johnson nicht einlassen. Brexiteers wie er befürchten, dass Großbritannien dadurch auf lange Zeit an die EU-Regeln gebunden bleibt. In diesem Zeitraum könnte das Vereinigte Königreich keine eigenen Handelsabkommen abschließen.
Abschied von der Exzellenz?
Großbritanniens Forschung profitiert deutlich von den EU-Fördergeldern. Zwischen 2013 und 2017 gingen insgesamt 8,8 Milliarden Euro aus Brüssel an britische Universitäten, mehr als an die allermeisten anderen EU-Länder. Das kommt nicht von ungefähr: Britische Forschung gilt in vielen Bereichen als exzellent. Johnson meint, dank vereinfachter Visaregeln und mit neuen Förderprogrammen „die klügsten und besten Forscher“ im Land halten zu können. Trotzdem verlassen bereits europäische und internationale Wissenschaftler*innen die Universitäten und bewerben sich im Ausland.
It’s the economy, stupid!
Die Strategie des Premierministers für einen No-Deal-Brexit scheint darauf ausgelegt, die Staatsausgaben drastisch zu erhöhen. Laut BBC hat er 6,3 Milliarden Pfund (6,9 Milliarden Euro) für die Vorbereitung – etwa um Häfen auszubauen oder Medikamente einzulagern – eingeplant. Das Office for Budget Responsibility führt Aufsicht über die britische Haushaltsdisziplin und hat ausgerechnet, dass im Fall des No-Deal-Brexits womöglich mehr als 30 Milliarden Euro zusätzliche Kredite aufgenommen werden müssen – allein im kommenden Jahr. Johnson dagegen geht von „verschwindend geringen“ Kosten aus.
Wie sehr höhere Staatsausgaben den Haushalt belasten würden, ist aktuell nicht absehbar. Auch in Großbritannien ist Geld dank niedriger Zinsen im Moment günstig zu leihen. Außerdem könnten höhere Ausgaben die Wirtschaftskraft ankurbeln, argumentiert Johnson. Aktuelle Zahlen zur britischen Wirtschaft zeigen jedoch, dass Großbritannien bereits auf eine Rezession zusteuert. Beunruhigend klingt die Prognose der Bank of England: Im Falle eines No Deal könnten die Immobilienpreise auf der Insel um 30 Prozent fallen.
Festlandeuropäer*innen würden den No-Deal-Brexit nicht nur durch teureren Fisch zu spüren bekommen. Drei Beispiele:
Banker auf Wohnungssuche
Banken suchen seit dem Brexit-Votum nach neuen Stützpunkten in der EU: Besonders beliebt sind Dublin, Luxemburg, Paris und Frankfurt. Anfangs ging man von 20.000 Angestellten aus, die vom Finanzzentrum London aufs Festland übersiedeln werden. Grund dafür ist, dass britische Banken ihren europäischen Pass, also ihre Zugangsrechte zum europäischen Markt, verlieren werden. Mittlerweile gibt es zwar Hinweise, dass die Zahl geringer ausfallen wird, weil die europäische Finanzaufsicht die Vorschriften gelockert hat. Dennoch werden etwa 2.000 Arbeitsplätze im Finanzsektor von der Themse an den Main wandern. Beruhigen dürfte das den ohnehin schon angespannten Wohnungsmarkt in Frankfurt nicht.
Bitte nicht so freizügig!
Derzeit leben mehr als drei Millionen Europäer in Großbritannien. Sie dürfen auch im Falle eines No Deal im Land bleiben. Die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger würde jedoch mit dem 31. Oktober enden, sagte eine Regierungssprecherin. Wer danach ins Land einreist, hat – anders als bisher – kein automatisches Aufenthaltsrecht. An den Details der Einreisebestimmungen arbeite man momentan. Für die Zeit nach dem Brexit hat Boris Johnson ein Punktesystem für Einwanderer angekündigt. Sie würden nach ihren Fähigkeiten und ihrem Nutzen für Großbritannien bewertet.
Die 1,3 Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, stehen vor einer ungewissen Zukunft. Mit jedem einzelnen Staat müsste Großbritannien ein Abkommen vereinbaren, wenn es zu einem ungeregelten EU-Austritt kommt. Auch für viele Europäer*innen, die auf der Insel studieren, ist unklar, wie es weitergeht. Im kommenden Studienjahr können sie in Großbritannien wie bisher studieren. Nur: Was kommt danach? Who knows! Eine Erasmusförderung wird es wohl wieder geben, schließlich nehmen auch jetzt bereits einige Nicht-EU-Staaten an dem Programm teil. Die Studiengebühren für EU-Studierende in Großbritannien könnten drastisch steigen, sollten sie nicht mehr wie britische Studierende behandelt werden.
Das Bruttosozialprodukt sinkt (ein bisschen)
Auch an der europäischen Wirtschaft ginge ein harter Brexit nicht spurlos vorbei – in eine Wirtschaftskrise schlitterte sie dadurch aber wohl nicht. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung hat errechnet, dass Exporte aus der EU nach Großbritannien um 25 Prozent sinken würden. In Deutschland verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt um bis zu zehn Milliarden Euro, pro Einwohner um 115 Euro.
Eine Sprecherin der EU-Kommission sagte am Montag, dass man für alle Eventualitäten vorbereitet sei. Zwar würde ein ungeregelter EU-Austritt „erhebliche Störungen sowohl für Bürger als auch für Unternehmen verursachen“. Doch träfen diese Großbritannien weit stärker als die übrigen 27 EU-Staaten.
Collagen: Bureau Chateau / Jannis Pätzold