Im Jahr 01996 hatten sie genug von dieser lähmenden Beschleunigung. Das Weltwissen zerbröselte vor ihren Augen, eine Art globales Techno-Alzheimer kündigte sich an, es war Zeit zu handeln. Zumindest sahen es der Computerwissenschaftler Danny Hillis, der Schriftsteller Stewart Brand, der Musiker Brian Eno und die restlichen Gründer der »Long Now Foundation« so. »Die Zivilisation steuert auf eine pathologisch kurze Aufmerksamkeitsspanne zu. Die Long Now Foundation will ein Gegengewicht zur heutigen Schneller/Billiger-Ideologie sein und langsameres, besseres Denken fördern – so lautete ihre Diagnose. Als Zeichen dafür, dass es ihnen nicht um Stunden und Tage geht, sondern um viele Jahrtausende, setzten sie eine zusätzliche Null vor jede Jahreszahl. 01996 also. Und sie kündigten an, eine Uhr zu bauen, die zehntausend Jahre lang hält. The Clock of the Long Now (siehe auch Seite 12). Ein Mahnmal für die Zukunft. Damit begann ihr Kampf gegen die Kurzfristigkeit.
36 Millionen Menschen waren damals im Internet. Eine lächerliche Zahl. Heute sind es etwa 1,7 Milliarden. Etwa 300.000 neue Domains kommen pro Tag dazu. Fünf Millionen Terabyte, schätzte der Google-Geschäftsführer Eric Schmidt 2005, sei das Internet groß. Doch mit Sicherheit kann das niemand sagen. Ein unfassbarer Berg aus Daten, Bildern, Filmen, Texten und Musik türmt sich auf. Wenn man Stewart Brand glaubt, ist das alles auf Sand gebaut. »Noch nie in der Geschichte hat es so einen drastischen undunwiederbringlichen Informationsverlust gegeben wie heute«, sagt Stewart Brand. Und auch ein anderer, der Schriftsteller und Linguist Umberto Eco ist sich sicher: Die Zukunft wird eine Epoche des Vergessens sein.
Das Problem ist, dass Wissen in den vergangenen Jahren nicht nur beweglicher, sondern auch flüchtiger geworden ist. Früher ritzten die Menschen Texte in Stein, der Jahrtausende überdauerte. Sie schrieben Bücher auf säurefreiem Papier, die sich Hunderte von Jahren lagern ließen. Heute speichern sie alles auf eine Festplatte, die durchschnittlich in fünf Jahren erledigt ist. »Wir leben im digitalen Dark Age – einem dunklen Zeitalter«, prophezeit Danny Hillis deswegen. Später werde man kaum mehr etwas über uns wissen. Es ist paradox: Die digitale Technologie stellt einerseits in der Gegenwart so viele Informationen bereit, wie noch nie zuvor. Andererseits sorgt sie womöglich dafür, dass in zehn Jahren schon wieder vieles verschwunden ist.
Archivare, also diejenigen Menschen, die von Berufs wegen gegen das Vergessen kämpfen, stehen vor einem Problem, das größer ist als die Frage des Speichermediums.»Wie isst man einen Elefanten?«, so beschreibt Stephan Jockel von der Deutschen Nationalbibliothek das Unterfangen, die Informationsmassen einigermaßen gut zu verdauen. Und hat auch gleich die Antwort: »In vielen kleinen Stücken.« Konkret heißt das: Seit 1969 sammelt sein Haus alle möglichen im Land erscheinenden, gedruckten Publikationen, die für ein Abbild der Gesellschaft relevant sein könnten. Seit ein paar Jahren müssten Jockel und seine Kollegen das eigentlich auch mit deutschen Webseiten machen. Eigentlich. »Wir können noch gar keine Webseiten sammeln, weil noch nicht klar ist, in welcher Form das passieren soll«, sagt Jockel. Niemand weiß mehr, was wichtig ist und was nicht.
Bei der »Long Now Foundation« sind sie da schon einen Schritt weiter. In ihrem Umfeld gründete Brewster Kahle Mitte der Neunzigerjahre das »Internet-Archive« – eine gemeinnützige digitale Weltbibliothek. Spezielle Algorithmen grasen das World Wide Web permanent ab und speichern, was sie kriegen können, Begriffe wie »wichtig« oder »unwichtig« kennen diese Suchroboter nicht. 150 Milliarden Seiten haben sie momentan auf »archive. org« gesichert, darunter auch historische Schätze wie frühe Webseiten von »Spiegel Online« aus den Neunzigerjahren. Doch das Problem ist auch die Form, in der das kollektive Wissen aufbewahrt wird. Programme aus der Computerfrühzeit laufen heute nicht mehr. Auch Laufwerke für Floppy-Disketten, MiniDiscs und Videodiscs werden immer seltener. Ein bekanntes Beispiel ist die amerikanische Weltraumbehörde NASA. Sie hat massive Schwierigkeiten auf alte Magnetbänder zuzugreifen, weil es zum Teil keine Lesegeräte mehr dafür gibt. Insgesamt sollen über eine Million Datenträger betroffen sein, darunter die Aufzeichnungen, die die Sonde Pioneer 1979 vom Saturn zur Erde funkte.
Die Universität der Bundeswehr und das Computermuseum München errichten zurzeit in einem ehemaligen Hangar die »DatArena«, ein riesiges Computer- und Softwarearchiv. Fast alle seit den Fünfzigerjahren gebauten Computermodelle samt Software sollen hier zur Verfügung stehen, falls irgendwo wichtige Daten nicht mehr gelesen werden können oder konvertiert werden müssen. »Das Hardware-Museum ist nur eine Lösung für ein paar Jahrzehnte«, sagt der Initiator, Bundeswehrprofessor Frank Borghoff. »Auch Computerchips gehen irgendwann kaputt.«
Der Kölner Dom lagert tief unter der Erde in einem Stollen
Das trifft leider auch auf CDs und DVDs zu. Die Redakteure der Computerzeitschrift »C’t« testeten Rohlinge – die besten hatten lediglich eine Haltbarkeit zwischen drei und fünf Jahren. Im Deutschen Musikarchiv in Berlin, das fast 400.000 Musik-CDs und 30.000 DVDs in dunklen und kühlen Räumen lagert, haben Archivare eine Stichprobe von älteren CDs überprüft – bei vielen hatten sich Teile der Silberschicht aufgelöst, kaum eine war in Ordnung. Wegen der Kurzlebigkeit der neuen Speichermedien verwendet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe noch heute eine in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Methode, um Informationen zu sichern. Im Barbarastollen, einem stillgelegten Silberbergwerk im Schwarzwald, wird seit 1975 das nationale Kulturgut in rund 400 Metern Tiefe archiviert. Über dem Gelände herrscht Flugverbot. Der Stollen steht unter besonderem Schutz nach der Haager Konvention. Unter der Erde lagern in luftdichten Edelstahlbehältern 27.000 Kilometer Mikrofilm. Der Vertrag zum Westfälischen Frieden, die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, die Krönungsurkunde Otto des Großen, der Bauplan des Kölner Doms – haltbar für mindestens 500 Jahre. Würde Deutschland von einem großen Meteoriten zerstört, könnte man mit dem Material aus dem Barbarastollen später vieles über die Kultur und Geschichte zumindest in Ansätzen rekonstruieren.
Doch gehören zur Kultur eines Landes mittlerweile nicht auch Software, Internetseiten, digitale Filme und digitale Musik? »Es ist nicht möglich, digitale Materialien mit vertretbarem Aufwand dauerhaft zu bewahren, weil Sie die ständig mit Pflege der Hard- und Software, mit Umkopieren und Emulation, mit einem gewaltigen wirtschaftlichen Aufwand am Leben erhalten müssen. Und das ist für den Barbarastollen schlicht nicht durchführbar. Für die Ewigkeit muss ich einen Schritt zurück machen und das Elektronische wieder verlassen«, sagt Oberarchivrat Martin Luchterhandt, der für das Land Berlin bestimmt, was im Barbarastollen eingelagert wird und was nicht. Der Markt belohnt nach wie vor vor allem die kurzfristigen Ideen. USB-Speicher werden größer und billiger –länger als ein paar Jahre halten sie aber nicht. Die Firma Cranberry vermarktet ein Produkt namens »DiamonDisc« – eine angeblich 1.000 Jahre haltbare DVD. Doch woraus der Rohling wirklich besteht, ist unklar, mal ist von einem »steinartigen« und mal von einem »diamantartigen« Material die Rede. Bei der »Long Now Foundation« schwören sie auf ein Speichermedium namens Rosetta, eine jeweils mehrere Tausend Jahre haltbare Nickelplatte, auf die jeweils 14.000 Textseiten eingraviert werden können, die mit einemElektronenmikroskop zu lesen sein sollen. Doch digital ist das leider nicht. An der Universität Basel wurde jüngst ein Verfahren entwickelt, das alte und neue Technologie zusammenbringt. Einsen und Nullen werden in einen sehr feinen, zweidimensionalen Barcode aus hellen und dunklen Punkten verwandelt und dann auf Mikrofilm übertragen. Das Blöde ist nur: Wer diesen Film in 500 Jahren zum Leben erwecken will, braucht natürlich auch wieder ein Computerprogramm.
Okay, wir haben es nicht getestet. Aber wir vermuten, dass eine gedruckte Ausgabe dieses Magazins etwa 75 Jahre haltbar ist. Natürlich gibt es im Netz auch eine PDF-Version. Wie lange du die aufbewahren kannst, wissen wir nicht. Es hängt eben davon ab, wie viele Sicherheitskopien du von deiner Festplatte machen willst.