Es gibt Dinge, die jeder sofort glaubt und die dennoch falsch sind. Die Sache mit den Eskimos zum Beispiel: Eskimos hätten 40 Wörter für Schnee, heißt es. Oder sogar 100. Kein Wunder, immerhin lebten sie ja in sehr kalten Gegenden, in denen es häufig schneie. Deswegen habe ihre Kultur auch besonders viele Vokabeln für den frostigen Niederschlag entwickelt. Nur stimmt das eben nicht. Denn die Sprache der Eskimos ist „polysynthetisch“: Viele Beschreibungen, die im Deutschen mehrere Wörter benötigen oder einen ganzen Satz, werden in der Sprache der Eskimos durch das Anhängen von Silben gebildet. „Schnee, der schon gestern gefallen ist“ oder „frisch gefallener Schnee“ sind demnach jeweils nur ein Wort. Der vermeintliche kulturelle Unterschied ist also in erster Linie ein grammatischer. Trotzdem geistert das Beispiel bis heute durch Literatur und Kultur.
Überhaupt ist vieles, das wir über Sprache zu wissen glauben, entweder nicht richtig oder bis heute nicht ganz klar. Das beginnt schon mit der Ur-Frage, wie Sprache eigentlich entstanden ist. 1769 lobte die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin einen Preis für die beste Antwort aus, den der Philosoph Johann Gottfried Herder mit folgender Schnurre gewann: Der Ur-Mensch steht einem Schaf gegenüber, „weiß, sanft, wollicht“. Er sucht ein Merkmal, um das Schaf zu beschreiben: „Ha! Du bist das Blökende“, denkt er. Damit hat der Ur-Mensch laut Herder das erste Wort erdacht: „Seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden!“
Was heute ein bisschen kindisch klingt, war damals ein Affront gegen die Kirche, die in der Bibel die Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Sprache sah. Inzwischen gibt es zwar unzählige Theorien, wie die Sprache ganz ohne Gott in die Welt kam – viel ausgefeilter als Herders Erzählung sind viele moderne Erklärungen aber auch nicht: Einige Forscher glauben, dass sich die Sprache im Laufe der Zeit aus Gesten entwickelte. Andere geben der Musik den Vorzug, zum Beispiel die US-amerikanische Anthropologin Dean Falk. Sie vertritt die These, dass sich die menschliche Sprache aus dem Singsang von Müttern entwickelt habe, die damit ihre Kinder beruhigten. Dagegen glaubt der amerikanische Linguist Derek Bickerton, dass der Ursprung der Sprache in der Nahrungsbeschaffung liegt. Vor etwa zwei Millionen Jahren habe der Urmensch angefangen, sich als Aasfresser zu ernähren. Um ein verendetes Mammut gegen andere Aasfresser zu verteidigen und die Riesen-Mahlzeit zu bewältigen, sei aber die Kooperation von vielen nötig gewesen (siehe auch das Interview auf Seite 5). Man könnte auch sagen: Der Mensch hat die Sprache erfunden, um mitteilen zu können, dass an einem weit entfernten Ort ein totes Tier liegt.
Ein Engländer hat kein Wort für Schadenfeude. Kann er sie dennoch empfinden?
Die Geschichte der Sprache wird nach ihrem Ursprung noch komplizierter: Die mehr als 6000 verschiedenen Sprachen, die Wissenschaftler kennen, unterscheiden sich in ihren Lauten, den Wörtern, die aus diesen Lauten gebildet werden, und der Grammatik, die vorgibt, wie diese Wörter aneinandergereiht werden: Spanisch hat fünf Vokale, einige afrikanische Sprachen rund 20. Das Finnische hat 15 Fälle, das Deutsche nur vier. Unterschiedliche Sprachen miteinander zu vergleichen und daran einen Einfluss der Gesellschaft auf die Sprache zu beweisen ist sehr schwierig. Ein Beispiel dafür ist eben die Geschichte von den Schneewörtern der Eskimos.
Berühmt gemacht hat diesen Mythos der amerikanische Forscher Benjamin Lee Whorf, der eigentlich Chemieingenieur war, aber in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts an der Yale-Universität Linguistik studierte und dort auch selbst für einige Zeit Anthropologie lehrte. Whorf glaubte, mit der vermeintlichen Vielzahl von Frost-Vokabeln eine faszinierende These belegen zu können: dass nämlich Sprache und Denken Hand in Hand gehen, dass Wörter und Grammatik einen Einfluss darauf haben, was wir denken und glauben. Linguisten nennen das die „Sapir-Whorf-Hypothese“. Sie würde bedeuten, dass manche Gedanken von jemandem, der eine andere Sprache als man selbst spricht, nicht nachvollzogen werden können. Und dass wir nicht denken können, was wir nicht in Worte gefasst haben.
Der englische Schriftsteller George Orwell hat sich von dieser Idee zur Kunstsprache „Neusprech“ in seinem Roman „1984“ inspirieren lassen. Diese Sprache ist in Orwells Vision ein wichtiges Herrschaftsinstrument des totalitären Regimes und soll einen Menschen daran hindern, verbotene Dinge auch nur zu denken: „Es würde viele Verbrechen und Fehler geben, die zu begehen er nicht imstande wäre, aus dem einfachen Grund, dass sie namenlos und daher unvorstellbar wären“, heißt es in dem Buch.
Diese extreme Abhängigkeit unserer Gedanken von unserer Sprache ist zwar ein faszinierender Gedanke, aber sie ist auch falsch. Ein Mensch, dessen Muttersprache in ihrer Grammatik keine Zukunftsform kennt, dürfte dann nicht in der Lage sein, sich über morgen, übermorgen oder das nächste Jahr Gedanken zu machen. Und ein Engländer dürfte überhaupt keine Schadenfreude empfinden, fehlt ihm doch das Wort dafür. Und was ist mit uns Deutschen, wenn wir den Durst gestillt haben? Wie nennen wir das Gefühl? Ein Wort dafür gibt es nicht, und dennoch kennt jeder den entsprechenden Zustand. Es gibt also wenig Belege dafür, dass wir etwas nicht denken, nur weil wir es nicht benennen können. Dass unsere Sprache aber einen Einfluss darauf hat, was wir denken und wahrnehmen und woran wir uns erinnern können, dafür haben Forscher in den vergangenen Jahren einige Belege gefunden. Unter anderem im Bereich der Farbwörter.
Warum ist die Brücke im Spanischen männlich – und der Mond eine Frau?
So können sich zum Beispiel Engländer besser daran erinnern, ob ihnen eine grüne oder blaue Farbe gezeigt wurde, als die Mitglieder des Berinmo-Stammes in Papua-Neuguinea, deren Sprache zwischen Blau und Grün keinen Unterschied macht.Aber man muss gar nicht so weit gehen: Selbst zwischen Niederländern und Deutschen haben Forscher einen Unterschied in der Wahrnehmung gefunden – dank einer kleinen Abweichung: Zwar sind in Deutschland und den Niederlanden, EU-Normen sei Dank, die Farben von Verkehrsampeln exakt gleich. Im Niederländischen wird die mittlere Farbe aber als „Oranje“ bezeichnet, im Deutschen als Gelb. Die Forscher zeigten einigen Versuchspersonen Bilder einer Verkehrsampel, mit sechs verschiedenen Farbtönen zwischen Gelb und Orange in der Mitte und baten, die Farbe entweder als gelb oder orange einzuordnen. Tatsächlich ordneten die Deutschen mehr Bilder der Farbe Gelb zu als ihre Landesnachbarn. Bilder einer Socke in den sechs verschiedenen Farbtönen wurden dagegen von den Testpersonen aus beiden Ländern gleich häufig als gelb oder orange bewertet. Für die Forscher ein Beweis, dass es nicht um eine allgemein andere Aufteilung von Gelb und Orange geht.
„Die Deutschen nehmen die Farbe einer Ampel tatsächlich anders wahr, weil sie anders heißt“, sagt Psycholinguistin Asifa Majid vom Max-Planck-Institut im niederländischen Nijmegen. Auch das grammatikalische Geschlecht, das unsere Sprache den Dingen zuordnet, hat offenbar einen Effekt auf unsere Sicht der Dinge. Sprachforscher haben die Assoziationen von Spaniern und Deutschen angesichts bestimmter Gegenstände verglichen, die wie die Brücke im Spanischen männlich (el puente) und im Deutschen weiblich sind. Das Ergebnis: Deutsche gaben den Gegenständen „weiblichere“ Attribute, zum Beispiel elegant und schlank, während die Spanier die Dinge eher mit „männlichen“ Eigenschaften wie Stärke beschrieben. Das grammatische Geschlecht färbt also offenbar auf den Gegenstand ab. Zumindest denkbar, dass die Brücken in Spanien und Deutschland deswegen anders aussehen. Die Welt ist eben so, wie wir sie uns denken. Vielleicht.