Der Holzboden des Festzelts bebt, der Bass dröhnt, die Menge tanzt. Csaba, Anfang 20, lacht, singt, feiert mit seinen Arbeitskollegen. Vor etwas über einem Jahr ist er aus Ungarn ins Rheinland gekommen. Ob er sich hier allein fühlt? "Edo ist doch mein Bruder", sagt er und deutet auf einen türkischen Kollegen, den er seit ein paar Monaten kennt. Der zapft zwei Pils aus dem Fass, für das alle am Tisch zusammengelegt haben. "Komm, wir trinken, Bruder."

Wenn man jemanden als Familienmitglied anspreche, gehe es auch um die eigene Identität, sagt Bernd Meyer, Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. "Der Ausdruck brothers and sisters, der ursprünglich von Schwarzen in den USA benutzt wurde, ist ein Zeichen besonderer Nähe."

In Deutschland hört man familiäre Anreden häufig von Türkischstämmigen. "Abi" für älterer Bruder ist so ein Wort, das Wertschätzung ausdrückt und inzwischen auch von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund verwendet wird. "Solche Anreden verbreiten sich zwischen den Jugendkulturen. So zeigt man, dass man zur selben Subkultur gehört", sagt Kommunikationsforscher Meyer.

Mit dem Stichwort "Familie" sei der Wunsch nach etwas Dauerhaftem und Verlässlichem verknüpft, sagt Kerstin Jürgens, Professorin für Mikrosoziologie an der Uni Kassel. Man hoffe auf "Solidarität, Liebe, Geborgenheit", die in Familien auf langjährigem Zusammenleben basieren. Klar, in Freundeskreisen würden keine Kinder erzogen, sie könnten aber durchaus wie Familien empfunden werden.

Auch das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft wie der von Barbara, 25. Ihre Wohngemeinschaft war bunt durchmischt was Alter und Herkunft betrifft: Inder, Franzosen, eine Litauerin und auch ein paar Deutsche waren dabei. "Die Wohnung war nicht besonders hübsch, die Mitbewohner haben aber so aufgeschlossen und familiär miteinander gewirkt, da wusste ich gleich: Da will ich einziehen", sagt Barbara.

"Klar gab's auch öfter Zoff, gerade weil wir so unterschiedliche Typen waren, aber das war nie so wichtig." Das Zusammengehörigkeitsgefühl sei stärker gewesen. "Wir haben uns so gut kennengelernt, dass wir schon eine kleine, etwas ausgeflippte Familie waren."

Die Soziologin Jürgens sieht auch in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen einen Grund für die Sehnsucht nach quasi familiärer Geborgenheit im Alltag. "Zukunftssorgen sind weit verbreitet. Das führt dazu, dass viele Menschen verstärkt nach Sicherheit in der Familie und auch bei Freunden suchen." Heute müsse man aber flexibel und mobil sein, und notfalls auch an einem andrem Ort seine Existenz neu aufbauen.

Keine guten Bedingungen für die Familienbeziehung, oder auch, um eine neue Familie zu gründen. Können stattdessen Freundschaften als Familienersatz herhalten? "Um in Freundschaften eine solche Solidarität aufzubauen, braucht es viel Zeit, gemeinsame Erfahrungen und vor allem Vertrauen. Über virtuelle Netzwerke lässt sich das nur bedingt bewerkstelligen, dafür ist Präsenz nötig", so Jürgens. "Aber falls wir keine eigene Familie haben, zum Beispiel, wenn wir älter sind, kommen wir dazu, uns Wahlgemeinschaften zu suchen, bei denen wir Geborgenheit finden und auf die wir auch im Notfall zählen können."