Es ist so einer der Fälle, die man nicht glauben mag: Ein junger Mann sitzt mit einem Freund auf einer Bank in einer U-Bahn-Station. Eine Gruppe anderer Jungs kommt vorbei, alle so um die 16, einer beginnt zu pöbeln. Was guckst du so? Mehr ist erst mal nicht. Aber plötzlich zieht einer der Jungs ein Messer und sticht zu. Mitten ins Herz. Das Opfer, der 19-jährige Mel, taumelt noch den Bahnsteig entlang, bevor er zusammenbricht und eine halbe Stunde später stirbt. Der Mord geschah vor fast einem Jahr, mitten in Hamburg, im U- Bahnhof Jungfernstieg. Dabei war es noch gar nicht lange her, dass auf einem anderen Bahnsteig in München der 50-jährige Dominik Brunner von zwei Jugendlichen totgeschlagen wurde, weil er sich schützend vor ein paar Kinder gestellt hatte. Sinnlose Straftaten wie diese lassen die Empörung hochschlagen. In großen Schlagzeilen wird dann nach härteren Strafen gerufen, empörte Bürger werden in der Fußgängerzone interviewt und fordern lange Haftstrafen für die Täter. Wer will ihnen das verübeln. In manchen Fällen wie dem Mord in der Hamburger U-Bahn- Station kommt noch hinzu, dass der erst 16-jährige Täter eine lange Latte von Straftaten hatte, darunter etliche Körperverletzungen. Und man sich fragen konnte, ob die Behörden nicht zu viele Alarmsignale übersehen hatten. Ob sie nicht viel zu milde waren.
Das Jugendstrafrecht, das für 14- bis einschließlich 17-jährige Jugendliche gilt und für 18- bis einschließlich 20-jährige Heranwachsende gelten kann, unterscheidet sich vom Erwachsenenstrafrecht vor allem dadurch, dass es nicht um Sühne gehen soll, sondern um den Gedanken der Erziehung. Es soll berücksichtigen, dass viele Straftaten Jugendlicher durch deren spezielle Lebenssituation begünstigt werden: Neugier, Unsicherheit, Leichtsinn und der Druck der Gruppe. Durch die Strafe soll der Täter zurück in die Gemeinschaft finden, weiteren Straftaten soll vorgebeugt werden. Eine abschreckende Wirkung soll mit der Strafe ausdrücklich nicht erreicht werden, weswegen die Urteile in der Regel wesentlich milder ausfallen als im Erwachsenenstrafrecht. Und schließlich geht es auch immer wieder um die Frage, ob gerade junge Menschen im Gefängnis erst recht kriminell werden, was eine hohe Rückfallquote nahelegt.
Es ist keine einfache Frage. Und es ist vielleicht auch keine Frage, die man in Fußgängerzonen beantworten kann. „Mich wundert, dass beim Strafrecht selbst bei komplizierten Fällen Menschen mitreden, die weder die Akten gelesen noch ein paar Semester Jura studiert haben, aber genau wissen, welche Strafe angemessen ist.“ Das sagt der Anwalt Patric von Minden, der seit rund 15 Jahren Jugendliche verteidigt – vom kleinen Dieb, der für ein bisschen Marihuana Handys klaut, bis hin zu einem Brüderpaar, das vor knapp sechs Jahren in Ahrensburg eine Lehrerin ermordete. Damals hatte von Minden für einen der Täter vor dem Landgericht eine Verurteilung lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung erreicht. Das Gericht sah es als nicht erwiesen an, dass der Junge an den tödlichen Verletzungen Mitschuld trug. Die Empörung schlug hoch, und tatsächlich ordnete der Bundesgerichtshof eine Revision an. Am Ende des zweiten Prozesses hieß das Urteil schließlich achteinhalb Jahre Haft. Trotz dieser Schlappe fällt von Mindens Blick auf die Justiz versöhnlich aus. Wenn er auf die 15 Jahre vor Gericht, bei Mandantenbesuchen im Gefängnis und Unterhaltungen hier in seinem Büro zurückblickt, kommt er zu einem Urteil, das so gar nicht zu den Schlagzeilen passen will. Die Jugendrichter, so von Minden, würden insgesamt eine gute Arbeit leisten, mit Augenmaß urteilen und dem erzieherischen Gedanken Rechnung tragen. Was sie nicht täten: „Sich von der Stimmung in den Medien und im Volk beeinflussen lassen.“
Schon im Jahre 1997 stellte die Bundesregierung fest, dass „keine empirischen Erkenntnisse vorliegen, dass durch eine härtere Bestrafung von Gewalttätern eine erhöhte generelle Abschreckungswirkung des Jugendstrafrechts gegenüber jungen Menschen erzielt werden kann“. Das gilt bis heute. Tatsächlich haben die Richter neben der sogenannten Jugendstrafe – also einer Gefängnisstrafe mit und ohne Bewährung – viele andere Möglichkeiten, jugendliche Straftäter zu maßregeln: Sie können eine Sozialarbeit anordnen oder zu den sogenannten Zuchtmitteln greifen, die am Ende von rund drei Viertel aller Fälle stehen: Dazu gehören Verwarnungen, Geldbußen und der Arrest, der bis zu vier Wochen dauern kann. Oft wird auch Freizeitarrest angeordnet – bei dem die Verurteilten ein Wochenende lang in die Zelle kommen. Die Wirkung dieser Maßnahmen sei sehr stark von der sozialen Herkunft abhängig, sagt Anwalt von Minden. Wer Eltern habe, die ihre Tage trinkend und streitend vor dem Fernseher verbringen, der werde sich von ein paar Tagen in der rauen Welt eines Gefängnisses nicht einschüchtern lassen. „Aber einen Gymnasiasten kann so ein Wochenende hinter Gittern schon aus seiner heilen Welt holen“, sagt von Minden. „Die wissen dann, wo der Hammer hängt.“ Aber natürlich gebe es auch Wiederholungstäter, die keine Sozialarbeit, kein Arrest stoppen kann. Manchmal will es von Minden einfach nicht wahrhaben, dass da schon wieder einer vor ihm sitzt, den er eben erst rausgepaukt hat. Einer, dem der Richter doch klipp und klar zu verstehen gegeben hat, dass beim nächsten Mal Schluss mit lustig ist. Und dann war das nächste Mal schon direkt nach der Verhandlung.
Dass das Jugendstrafrecht im Großen und Ganzen funktioniert – dafür könnte die Strafverfolgungsstatistik ein Indiz sein, nach der die Anzahl der von Jugendlichen begangenen Delikte seit Jahrzehnten annähernd stagniert. Am gewalttätigsten war die Jugend in den fünfziger Jahren, als man sich noch regelmäßig zur Keilerei verabredete. Heute besteht das Massendelikt eher aus dem Raub von Handys oder MP3-Playern, die fast jeder Jugendliche mit sich herumträgt, was gerade Schwächere und Jüngere zu potenziellen Opfern macht. „Das nennt sich dann ganz harmlos ,abziehen‘“, sagt von Minden, „dabei ist das ein ganz klarer Raub.“ Gesunken sei auch die Hemmschwelle bei Körperverletzungen. Oft werde noch zugeschlagen, wenn sich das Opfer nicht mehr wehren kann. „Das kann einen schon sprachlos machen.“ Vor einigen Monaten war es wieder so weit – da schlug von Minden die Zeitung auf und las den Namen eines alten Bekannten. Eines Mannes, den er schon als 15-Jährigen kannte und der damals bereits auf die schiefe Bahn geriet. Nun stand er in der Zeitung als Bestie, als Mörder einer Nachtpflegerin, die er in einer psychiatrischen Einrichtung umgebracht hatte. Wäre ein derart krasser Fall nicht der Beweis dafür, dass die Justiz zu milde ist? Dass sie gemeingefährliche Menschen nicht sicher genug wegsperrt, dass sie unfähig ist, die Bürger sinnvoll zu schützen? Niemand könne wissen, ob ein Täter, der aufgrund einer günstigen Sozialprognose entlassen wird, nicht doch wieder rückfällig werde, sagt Anwalt von Minden. „Deswegen heißt es ja Prognose.“ Aber wenn nur 20 Prozent Bewährungsversager seien, dann sei das ein guter Wert.
20 Prozent – das ist so eine Zahl: Man könnte sagen, es ist der Preis dafür, dass sich diese Gesellschaft erlaubt, mit vermeintlichen Unmenschen menschlich umzugehen. Sie nicht aufzugeben. An das Gute in ihnen zu glauben. Jeder fünfte bedankt sich für das Vertrauen mit einer neuen Tat, im schlimmsten Fall mit einem Mord. Andererseits ist die Alternative nicht besser. Sie hieße – auf das Jugendstrafrecht angewandt –, den Erziehungsgedanken hintanzustellen und stattdessen Vergeltung zu üben. Aber bekäme man dann weniger Straftäter? In Norwegen gibt es ein Experiment. Statt ins Gefängnis müssen die Verurteilten auf eine Insel, wo sie sich frei bewegen können. Sie müssen quasi auf sich selbst aufpassen. Die Fluchtquote liegt bei null, die der Rückfalltäter soll deutlich niedriger sein als bei normalen Gefängnissen. Die Gleichung harte Strafen gleich weniger Taten geht wohl nirgendwo auf der Welt auf. Im September vergangenen Jahres trafen sich auf dem Jugendgerichtstag in Münster Juristen und Kriminologen, um über die neusten Entwicklungen im Strafrecht zu sprechen. Der Kriminologe Wolfgang Heinz sagte dort, weltweite Studien hätten gezeigt, dass frühe und harte Eingriffe die Gefährlichkeit der Täter noch erhöhten. „Milde“, so Heinz’ Fazit, zahle sich aus. Das hofft in einem ganz speziellen Fall auch von Minden. Es geht um den Jungen, der zusammen mit seinem Bruder eine Lehrerin ermordete, weil sie ihm schlechte Noten gegeben hatte. Das sah das Gericht als erwiesen an. Der Junge kam nach dem Verbüßen von zwei Dritteln der Strafe wieder frei. Neulich traf ihn von Minden überraschend in der Fußgängerzone. Der einst wegen Mordes Verurteilte erzählte ihm, dass er nun sein Abitur macht. „Ich habe ein gutes Gefühl“, sagt von Minden. Aber er weiß: Absolute Sicherheit gibt es nicht.