Herr Delgado, warum ist das Thema Wasser in Lateinamerika so konfliktgeladen?
Wegen Wasser gibt es auch im Nahen und im Mittleren Osten Probleme, zum Beispiel zwischen Iran und Irak. Aber Lateinamerika hat in den letzten Jahrzehnten eine Phase extremer Liberalisierung aller öffentlichen Güter durchgemacht. Dazu zählen auch die Wasservorkommen. Vieles davon wird mittlerweile als Fehler anerkannt und könnte sich deswegen langfristig wieder ändern. Dazu kommt, dass die Wasserfrage in Südamerika von einer geografischen Besonderheit geprägt wird: dem Acuífero Guaraní.
Was ist das?
Ein natürlicher unterirdischer Wasserspeicher, das zweitgrößte Süßwasserreservoir der Welt, so groß wie Portugal, Spanien und Frankreich zusammen. Er gehört zu Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay. Seit einigen Jahren läuft das Projekt „Integration der Infrastruktur Südamerikas“. Es soll die großen multinationalen Agrargebiete versorgen. Dabei handelt es sich meist um Sojaanbau von Agrarmultis wie Cargill aus den USA. Im Norden des Kontinents werden Industrieproduktionszentren wie die VW-Werke in Mexiko mit Wasser versorgt. Die Bevölkerung bekommt davon nichts ab.
Der argentinische Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel sagte: „Wenn der Acuífero in die Hände multinationaler Konzerne gelangen würde, wäre das nach dem Goldraub durch die spanischen Eroberer die zweite, noch viel größere Plünderung in der Geschichte Südamerikas.“
Da ist etwas dran. Diese Wasserreserven werden nicht zum Vorteil der Menschen genutzt, sondern für die Versorgung der großen Konzerne in Argentinien und Brasilien. Auch in-ternationale Unternehmen bedienen sich: Vor Kurzem haben Argentinien und Brasilien einen Vertrag mit dem Golf-Kooperationsrat unterschrieben. Der enthält eine Klausel, die arabi-schen Abfüllunternehmen den Zugang zum lateinamerikanischen Wasser ermöglicht.
Wer ist dafür verantwortlich?
Zunächst einmal die lateinamerikanischen Regierungen. Ohne deren Einwilligung würde es gar nicht so weit kommen. Andererseits üben internationale Organisationen auch gehörigen Druck aus.
Wen meinen Sie damit?
Offiziell beschränken sich Institutionen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds darauf, sogenannte Empfehlungen zu geben. Aber dann sagen sie den Regierun-gen: Wenn ihr unseren Empfehlungen nicht folgt, verlängern wir eure Kredite nicht. Letztlich akzeptieren die jeweiligen Regierungen diese Dynamik der Drohungen.
Und was geschieht dann?
Die Weltbank zum Beispiel finanziert alle Projekte, die mit Staudämmen zu tun haben. Dann werden die jeweiligen lokalen Regierungen unter Druck gesetzt, sich finanziell zu beteiligen. Dafür müssen sie wieder internationale Kredite aufnehmen. Den Bauauftrag bekommen dann große westliche Unternehmen, weil nur sie solche Projekte stemmen können. Es machen also alle ein gutes Geschäft: internationale Kreditgeber und die Wirtschaft in den Ländern, die diese Organisationen kontrollieren.
In der südmexikanischen Provinz Chia-pas geraten seit einiger Zeit die indigene Bevölkerung und Coca-Cola aneinander. Der Konzern kauft riesige Flächen Land auf und schneidet den Menschen den Zugang zum Wasser ab. Wie ist es so weit gekommen?
Das hängt mit den Privatisierungstendenzen in allen Bereichen zusammen. Zudem ist laut mexikanischer Verfassung die Exekutive zuständig für die Verwaltung des Wassers und kann diese auch Dritten übertragen. Präsident Calderón interpretiert das so, dass er in seinen Entscheidungen nicht parlamentarisch gebunden ist. Das ist nicht korrekt, aber Coca-Cola war ja auch einer seiner Hauptgeldgeber im letzten Wahlkampf.
Solche Lobbyarbeit ist weit verbreitet.
Aber das Wasser wird so zu einer Angelegenheit der nationalen Sicherheit Mexikos. Die Gesundheit und das Überleben der Bevölkerung erfordern eine staatliche Garantie auf den Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle. Dazu kommt die Angst vor einer Wasserkrise mit den USA.
Mexiko bezahlt seit 2001 seine Schulden zum Teil mit Wasser aus dem Rio Bravo.
Ja, der Fluss entspringt auf US-Staatsgebiet und erreicht sein höchstes Volumen in Mexiko. In den letzten Jahren konnte die mexikanische Regierung, wegen großer Hitze oder Trockenheit, die Zahlungen nicht immer leisten. Die USA haben daraufhin damit gedroht, den Fluss einfach auf eigenem Gebiet abzuschöpfen. Das gefährdet Mexikos Sicherheit.
Gian Carlo Delgado, 29, ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universi-dád Autónoma de México in Mexico City und Autor des Buches Agua y Seguridad Nacional (2005). Er trinkt am liebsten stilles Wasser.