Als Alejandro López bei Zanón am Fließband anfing, war er 20 und wollte einfach nur Geld verdienen. Fabrik, das war Arbeit, ein notwendiges Übel. Leben, das war woanders. Von seinem ersten Lohn kaufte er sich eine neue Jeans und Turnschuhe.
Heute, mit 38, ist Zanón sein Leben. Als die Fliesenfabrik pleiteging, besetzten er und die anderen Arbeiter den Betrieb. Schalteten die Maschinen wieder an und produzierten weiter. Wehrten sich gegen Zwangsräumungen, Drohungen und Kugelhagel. Inzwischen leiten die Arbeiter die Fabrik in der Provinz Neuquén, im nördlichen Patagonien, seit bald zehn Jahren. Unabhängige Medien feiern sie wie Superhelden im Kampf gegen die Ar- beitslosigkeit. Doch Politiker und Unternehmer in der Region sind besorgt: Wenn das Beispiel Zanón Schule macht und die Arbeiter Erfolg haben, könnten auch die Belegschaften anderer Betriebe widerspenstig werden.
Dabei ist das längst geschehen. In rund 200 argentinischen Fabriken haben Arbeiter seit der Wirtschaftskrise 2001 das Kommando übernommen – Zanón ist die bekannteste von ihnen. „Wir mussten weitermachen“, sagt Alejandro und wen- det den Blick nicht vom Fließband. Neben ihm steht eine kleine Gasheizung, deren Wärme sich in der hohen Halle schnell verliert. „Wo hätten wir sonst Arbeit finden sollen?“ Für Arbeitslose gibt es in Argentinien nach zwölf Monaten Arbeitslosengeld so gut wie keine staatlichen Hilfen mehr.
In der Fabrik, in der es keinen Chef mehr gibt, stampft und donnert es. Alle Maschinen sind besetzt. Hinten in der Hal- le, wo die rötliche Tonerde angeliefert wird, ist es staubig. Dort, wo sie in Fliesenform gepresst wird, trocken und laut. „Pfffft“ macht die Presse, 230 Kilo pro Quadratzentimeter drücken auf den Lehm. Frisch gestanzte Vierecke fahren dann auf einem Fließband durch die Halle. Zu Alejandro, der die braungraue Glasur kontrolliert, mit der sie bedeckt werden.
Als er vor fast zwanzig Jahren in der Fabrik anfing, stand über dem Eingangsportal: „Bei Zanón zu arbeiten ist ein Privileg.“ „Schönes Privileg“, dachte Alejandro, als wenig später Stellen und Gehälter gekürzt wurden, obwohl die Fabrik gut lief. Bis zu 16 Stunden am Stück musste er arbeiten. Auf Metallgerüsten standen Aufpasser.
Nur selten lief Fabrikchef Luigi Zanón selbst durch die Hallen, grüßte freundlich und legte ausgewählten Arbeitern jovial die Hand auf die Schulter. Das war seine Art, den Aufpassern zu zeigen, wer ihm nicht gefiel. Wenig später wurden diese Arbeiter entlassen. Die meiste Zeit regierte Zanón die Fabrik von einem bequemen Ledersessel aus, immer ein Lächeln auf den Lippen. Der Fabrikboss soll die Gewinne außer Landes geschafft haben. „Er wollte rausholen, was ging, und dann dicht machen“, sagt Alejandro. „Vom Staat hatte er Millionenkredite bekommen und dachte nicht daran, das Geld zurückzuzahlen.“ Den Flachbau mit begrüntem Innenhof, in dem der Firmenboss saß, nennen die Arbeiter heute noch das „Pentagon“, wie das amerikanische Verteidigungsministerium – das Zentrum der Macht.
Als 120 Angestellte entlassen werden sollten, rumorte es in der Fabrik. Weil sie dort nicht in Ruhe reden konnten, organi- sierten die Arbeiter ein Fußballturnier. Bei Bier und Grillwürstchen planten sie die Abwahl der bisherigen Gewerkschafter, die vermutlich für ihr Stillhalten bezahlt wurden. „Dann gingen wir zu Luigi Zánon und forderten bessere Arbeitsbedingungen“, erzählt Alejandro. Doch der Fabrikbesitzer versuchte gar nicht erst zu verhandeln. Er bat die Abgesandten lediglich, die anderen Arbeiter ruhig zu halten. Er bot ihnen Geld und lud sie auf eine Italienreise ein. „Aber wir waren nicht bestechlich“, sagt Alejandro.
Nach dieser Unterredung zahlte der Fabrikchef den Arbeitern monatelang keine Löhne aus. Noch aber hielten die Arbeiter still. Erst als der 20-jährige Angestellte Daniel Ferrás nach einem Kreislaufstillstand starb, weil die Sauerstoffflaschen im Erste-Hilfe-Raum leer waren, gingen die Arbeiter auf die Straße. Die Folge: Luigi Zanón schloss die Fabrik, meldete Konkurs an und kündigte allen Mitarbeitern. Doch die ließen sich nicht vertreiben: Sechs Monate zelteten sie aus Protest vor den Hallen. Die Menschen in Neuquén brachten ihnen Essen, die Leh- rergewerkschaft demonstrierte mit. Anfangs bewachten Zanóns Sicherheitsleute noch das Gelände, doch auch sie wurden irgendwann nicht mehr bezahlt und gingen. „Dann“, sagt Alejandro, „besetzten wir die Fabrik und brachten die Maschinen wieder in Gang.“
Das war im März 2002. Seitdem sind die Brennöfen in Dauerbetrieb. Die Arbeiter kommen in drei Schichten. Pünktlich, 15 Minuten vor Arbeitsbeginn, obwohl kein Chef auf die Uhr schaut. Wer oft zu spät ist, krank feiert oder mit den Compañeros streitet, muss sich vor der Betriebsversammlung rechtfertigen. „Das wollen die wenigsten“, sagt Alejandro. In den ersten Jahren hatte er einen führenden Posten. Doch damit es in der Kooperative keine Chefs und Untergebenen gibt, rotieren die Jobs. „Seit einem Jahr stehe ich wieder an der Maschine.“ Es ist die gleiche wie vor fast zwanzig Jahren. Aber alles ist anders.
Konzentriert schaut Alejandro auf die Fliesen, die auf dem Band an ihm vorbeifahren, bis zu 50 pro Minute. Wenn einer eine Ecke fehlt, wirft er sie auf eine Schubkarre. Neben ihm steht ein kleiner Tisch, darauf ein Becher mit Mate-Tee. „Der hilft mir, die Nachtschicht durchzustehen. Früher durften wir keine Getränke am Platz haben.“
Die anderen nennen Alejandro „Cabezón“. Dickschädel heißt das, aber auch „großer Kopf“. Ein Arbeiter am Band ne- benan tippt sich bewundernd an die Stirn: „Weil da viel bei ihm drin ist.“ Er selbst sei zuerst gegen die Besetzung gewesen. „Ich bin gegangen, ich glaubte nicht an den Erfolg. Aber dann brauchten sie Fachkräfte und stellten mich wieder ein.“ Auf seiner Jacke steht der neue Name der Fabrik: Zanón heißt jetzt auch Fasinpat, das steht für Fábrica Sin Patrón, Fabrik ohne Chef. Als die Fabrik pleiteging, hatte Zanón 240 Arbeiter. Heute, ohne Boss, sind es 431. Zanón ist in Argentinien berühmt, auf dem Hinterhof finden Rockkonzerte statt, zu der Band „Attaque77“ kamen 15000 Fans. Seit einem Jahr ist neben der Kantine eine Abendschule untergebracht, 25 Arbeiter gehen nach Schichtende aufs Gymnasium. Im Pentagon, in dem einst Luigi Zanón herrschte, gibt es jetzt Fanartikel für Besucher: Jacken, Pullis und Basecaps mit dem Fasinpat-Logo. „Als wir nach Buenos Aires fuhren, konnte ich es nicht fassen“, sagt ein Mechaniker, den alle nur „Foca“ nennen, die Robbe. „Die Leute in der U-Bahn sahen unsere Fabrikkleidung und feierten uns, als wären wir die Nationalelf.“ Die Heldensage der mutigen Arbeiter von Zanón sprach sich herum, längst bitten die Belegschaften anderer Fabriken um Rat. Ein Kinderbuch erzählt die Geschichte der Fabrikbesetzung, damit sie auch die Kleinsten verstehen.
Doch die wahre Geschichte von Zanón ist kein fröhliches Sommermärchen: Als die Arbeiter die Fabrik besetzten, drang die Polizei in die Wohnung von Alejandros Freund Raúl ein und bedrohte dessen Töchter. Die Ehefrauen von zwei Arbeitern wurden entführt und verprügelt. Bei einer Demo schossen Polizisten mit scharfer Munition auf einen Teilnehmer, der ein Auge verlor. Und das sind nur drei von vielen Episoden. Mehrfach hatten Richter entschieden, dass die Fabrik zwangsgeräumt werden soll. „Doch die Menschen kamen zu Tausenden, hielten sich an den Händen und stellten sich vor die Fabrik“, sagt Alejandro. Die Gerichts- vollzieher fuhren wieder ab. „Die Leute sind auf unserer Seite. Wir kennen uns aus dem Supermarkt, von der Bushaltestelle. Sie wissen, dass wir keine Verbrecher sind und die Fabrik nicht für uns wollen. Wir fordern eine Verstaatlichung, Gewinne sollen an die Gemeinde gehen. Schließlich schuldet Luigi Zanón dem Staat Millionen.“
Als bei einer Demonstration ein Polizist einen Lehrer erschoss, war die Bevölkerung die Politik der harten Hand endgültig leid, und auch die Provinzregierung schwenkte um. Ein Richter entschied am 12. August 2009: Die Fabrik muss enteignet und den Arbeitern übergeben werden. Doch bisher hat die Provinzregierung den Beschluss nicht umgesetzt. „Die Politiker spielen auf Zeit“, sagt Alejandro. „Sie hoffen, dass wir pleitegehen, bevor die Fabrik uns gehört. Wir greifen die Interessen des Kapitals an, deshalb sind wir für viele Feinde. Seit wir die Fabrik leiten, kauft die Provinz keine Fliesen mehr bei Zanón.“
Es ist 22 Uhr, Beginn der Nachtschicht. Im Licht der Neonröhren treffen sich die Arbeiter zur Krisensitzung in der Kantine. Die internationale Finanzkrise hat auch die Fliesenfabrik getroffen. Es wird weniger gebaut in Argentinien, und die Konkurrenz aus China ist billiger. Der Einkauf stockt, weil Geld fehlt, die Tonerde reicht nur noch für wenige Tage. Ohne Tonerde keine Produktion. Die Lohnbuchhaltung ist bald zahlungsunfähig, weil seit Monaten zu wenig Geld reinkommt.
Die Maschinen bei Zanón sind bis zu 20 Jahre alt. Sie sind langsam und brauchen viel teure Energie. „Die private Fliesenfabrik nebenan bekam einen Milli- onenkredit. Mit einer einzigen neuen Anlage stellen die so viele Fliesen her wie wir mit zehn“, sagt Alejandro. „Wir brauchen dringend neue Technologie, damit wir mehr und billiger produzieren können.“ „Seit zehn Jahren flicken wir an den Maschinen herum“, beschwert sich auch Robbe, der Mechaniker. „Wir bräuchten zumindest neue Ersatzteile.“ Doch so lange die Enteignung rechtlich nicht durch ist, können die Arbeiter den Banken keine Sicherheiten bieten. Keine Sicherheiten, kein Kredit, keine neuen Maschinen.
Für Unmut sorgt auch das Thema Lohn. Alle bekommen den gleichen, egal ob sie viel oder wenig produzieren. Wer macht schon gerne Nachtschicht, arbeitet freiwillig am Wochenende? „Leute, wir müssen zusammenhalten“, sagt Alejandro. „Lasst uns nicht gegeneinander kämpfen. Wir müssen produzieren und allen zeigen, dass wir es können.“ Tatsächlich haben die Arbeiter keine Wahl. Welcher Unternehmer stellt schon einen ehemaligen Fabrikbesetzer ein? Erst weit nach Mitternacht ist die Sitzung vorbei. Am Ende steht fest: Die Arbeiter gehen wieder auf die Straße. Sie wollen demonstrieren und die Durchsetzung der Enteignung fordern. Ohne Kredite haben sie keine Chance.
Minuten später steht Alejandro wieder an der Maschine, prüft die Dicke der Glasur der Fliesen. „Es ist keine einfache Situation. Aber jetzt entscheiden wir wenigstens selbst über unser Schicksal.“ Bedächtig trinkt er einen Schluck Mate-Tee. Kein Aufpasser hindert ihn daran.
Unsere Autorin Karen Naundorf arbeitete als Cowgirl in Disneyland und renovierte Lehmwände von nepalesischen Landschulen mit einer Mischung aus Erde und Kuhmist, bevor sie studierte, auf die Journalistenschule ging und dann nach Südamerika zog, um dort als Korrespondentin zu arbeiten.