Die Sprüche meines Cousins 

„Ihr Deutschen“, sagt mein Cousin mit vollem Mund, „ihr tickt da echt anders als wir Franzosen.“ Er schaut auf seinen Teller und dann in die Runde, zu meiner Mutter, meinem Onkel, unserer Großmutter. „Also, mit den Migranten, meine ich.“

Keiner spricht. Es ist März 2016, mitten in der sogenannten Flüchtlingskrise. Wir alle hatten die Diskussion erwartet, wollten sie aber vermeiden. Mein Cousin spricht von Moscheen auf dem Marktplatz, von Migranten, die ihre Familien nachholen und den Franzosen die Arbeit wegnähmen. Und dass die Deutschen alle reinlassen würden. Eine, die sie reingelassen haben, ist übrigens meine Mutter. Vor einiger Zeit schon zog sie von Frankreich nach Süddeutschland. Dort lebt und arbeitet sie, und manchmal hilft sie Flüchtlingen bei Behördengängen und Übersetzungen.

Mein Cousin ist 25, vier Jahre jünger als ich. Wir kennen uns, seit wir klein sind. Wenn er nun „ihr Deutsche“ sagt, dann klingt das vorwurfsvoll, als hätte sich etwas zwischen uns geändert. Anders geworden ist auf jeden Fall das, was er „wir Franzosen“ nennt. Franzosen nämlich, sagt mein Cousin, kümmerten sich zuerst um Franzosen, danach um Fremde. D’abord la France, Frankreich zuerst!

Er verallgemeinert, weil er sich in der Mehrheit weiß. Am Tisch auf jeden Fall, im Dorf und der Region wahrscheinlich auch. Und wenn alles so läuft, wie er sich das wünscht, vielleicht bald in ganz Frankreich. Die Franzosen wählen 2017 einen neuen Präsidenten. Der erste Wahlgang ist am 23. April, der zweite, entscheidende am 7. Mai. Allen Prognosen nach wird der Front National (FN) in den zweiten Wahlgang gelangen. Eine Partei, die man schwer ins übliche Spektrum einordnen kann, irgendwie rechtsextrem und irgendwie sozialistisch. „Patriotisch“ nennt sich der FN selbst.

Was mein Cousin so erzählt, klingt nach den Parolen des Front National. Etwa, dass sich Franzosen zuerst um Franzosen kümmern sollen, wobei mit Franzosen nicht unbedingt alle mit französischer Staatsbürgerschaft gemeint sind, zumindest nicht, wenn sie eine andere Hautfarbe haben.

Die Älteren, also mein Onkel, die Nachbarn, die Kollegen meines Onkels, schweigen, wenn man sie fragt, was sie wählen werden; ein Zeichen, dass auch sie den Front National favorisieren. Sie schämen sich wohl noch ein bisschen. Wie aber konnte es passieren, dass Teile meiner Familie eine rechtsextreme Partei wählen?

Make France great again

Als Jean-Marie Le Pen den Front National 1972 gründete, war es die Partei der ehemaligen Nazikollaborateure, antirepublikanisch, dogmatisch, neoliberal. Für die Mehrheit galt er als unwählbar. Einen einzigen nennenswerten Wahlerfolg erzielte Le Pen, als er 2002 einen schwachen linken Kandidaten schlug und in die Stichwahl gelangte. Ein breites republikanisches Bündnis versammelte sich anschließend hinter dem Kandidaten der Gaullisten, Jacques Chirac, um den Front National zu verhindern.

Danach versank der FN in der Bedeutungslosigkeit. 2011 übernahm schließlich die Tochter des Gründers: Marine Le Pen orientiert sich an nordeuropäischen Rechtspopulisten, arbeitet mit Provokation, mit der Selbstdarstellung als Opfer und als Verteidigerin der Tradition. Ihre Forderungen: Zuwanderungsstopp und Zölle, raus aus der NATO, raus aus dem Euro, raus aus dem Schengenraum, Schnellgerichte und Todesstrafe. Letztere hat sie zwar mittlerweile aus ihrem Wahlprogramm gestrichen. Sie will aber Volksinitiativen in Frankreich einführen – und regt an, darüber eine Rückkehr zur Todesstrafe zu beschließen. Nach Donald Trumps Wahlsieg kündigte sie an, auch Frankreich wieder „great“ zu machen, Franzosen sollten eine „Weltzivilisation im 21. Jahrhundert“ werden. Mit diesem Programm beherrscht der FN den politischen Diskurs. Bei der Europawahl 2009 wählten ihn gerade mal gut sechs Prozent der Franzosen. Fünf Jahre später war er mit rund 25 Prozent stärkste Partei.

Mein Cousin poltert von Einwanderung, Laizität und den Werten der Republik. Wenn ich nachfrage, zeigt sich, dass dahinter eher wenig steckt. Es klingt vielmehr, als wiederhole er Schlagworte direkt aus den Reden von Marine Le Pen. Spricht er aber darüber, wie er und seine Freunde nach der Ausbildung keine Arbeitsverträge bekamen, stattdessen von Job zu Job springen mussten, schlecht bezahlte und stupide Arbeit verrichteten oder wie er und seine Freunde die Tage mit Rumhängen verbringen, weil es außer Jobs an der Kasse von irgendeinem Supermarkt in der Region nichts gibt, dann klingt das anders. Das klingt authentisch, erlebt. Es klingt so, dass ich seine Verzweiflung verstehen kann.

Das Dorf, in dem wir uns am Küchentisch streiten, liegt im Osten Frankreichs, südlich von Lyon. Bei den Regionalwahlen 2015 wählten hier 32,9 Prozent der Einwohner im ersten Wahlgang den Kandidaten des Front National. Dieses Dorf steht für viele vergessene Dörfer auf dem Land, wo die jungen Menschen wegziehen, weil es keine Arbeit mehr gibt. Auch für meine Familie nicht.

Als das Bistro immer voll war

1960 übernahm meine Großmutter von meinem Urgroßvater ein Bistro in einer etwas abgelegenen Straße am Rande einer Bergbausiedlung. Der Förderturm des Puits Charles ragte davor in die Luft, eine der sechs Kohlegruben des Ortes. Man arbeitete unter Tage in drei Schichten, rund um die Uhr. Und nach der Schicht kamen die Arbeiter in das Bistro meiner Familie und tranken. Sie strömten in den Gastraum, gefolgt von ihren Frauen, die einen Teil des Tagelohns in Sicherheit brachten, bevor alles versoffen war. Die ganz Betrunkenen fuhr mein Großvater später nach Hause und verdiente sich so als Taxifahrer etwas dazu.

Die Minen liefen so gut, dass die Bergbauunternehmen mehr Leute brauchten. Erst kamen polnische Bergarbeiter, denen man provisorische Unterkünfte zuwies, später bekamen sie die gleichen einfachen Siedlungshäuser wie die Franzosen. Die Polen tranken viel, also lief das Geschäft meiner Oma gut. Sie veranstalteten große Familienfeste und trafen sich zum Tanzen. Franzosen und Polen beäugten sich anfangs, dann lernte man sich näher kennen und feierte zusammen.

1964 kamen die Algerier. Erst brachte man sie in provisorische Unterkünfte, dann baute man ihnen eine Siedlung – weit abgelegen bei den Minen. Die Kinder lernten sich in der Schule kennen, die Eltern begegneten sich so gut wie nie. Eine algerische Familie mietete später das Dachgeschoss des Bistros. Nur manchmal kamen sie runter in den Gastraum, sie tranken keinen Alkohol.

Ab 1962 kamen die Rückkehrer aus dem Algerienkrieg, in dem Schätzungen zufolge 400.000 Algerier getötet wurden und 25.000 französische Soldaten (siehe Artikel "das Trauma" aus dem Heft Seite 28). Viele Soldaten kamen in ihre Dörfer zurück und suchten Arbeit, zum Beispiel in den Minen. Über viele Jahre herrschte eine gewisse Spannung, meist aber ignorierten sich die ehemaligen Soldaten und die algerischen Zuwanderer, manchmal gab es Schlägereien. Jeden Montag um 18 Uhr kam der Lokalpolitiker der Kommunisten ins Bistro. Und da standen sie dann, die Franzosen, die Polen und die Algerier, und lasen dieselben Pamphlete, hörten dieselben Reden vom Arbeiterkampf und von der internationalen Solidarität. Man hielt zusammen, man stritt für gleiche Arbeit, gleiche Rechte, gleiche Pflichten, für die gleiche Partei. Die kommunistische.

Dann schloss die erste Mine, das war 1965. Elf Jahre später schloss die letzte. Und mit den Minen verschwand die Solidarität.

Keine Arbeit, keine Kommunisten

„Die Eigenschaft, Franzose zu sein, wurde zum zentralen Element der einfachen Leute und löste als solches das Arbeitersein oder Linkssein ab“, so der Soziologe Didier Eribon in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“, in dem er genau das beschreibt, was mit meiner Familie geschah – nämlich wie aus stolzen Kommunisten Wähler des Front National wurden.

Die Wählerschaft des Front National ist der der Kommunistischen Partei der 1960er- und 1970er- Jahren sehr ähnlich. Laut Umfrageinstitut Ipsos wählten bei den Regionalwahlen 2015 43 Prozent der Arbeiter und 36 Prozent der Angestellten den Front National, 36 Prozent der FN-Wähler haben keine höhere Schulbildung. Früher wählte man die Kommunistische Partei, weil sie die Probleme der Arbeiter verstand. Doch mit der Arbeit verschwand auch die Kommunistische Partei. Von 22 Prozent 1967 fiel sie auf unter zehn Prozent in den 1990er-Jahren. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, von der sie unterstützt wurde, versank sie in der Bedeutungslosigkeit. Fortan wählte man entweder die Sozialisten, dabei war das eher die Partei der Lehrer, Beamten und Büroangestellten, oder die konservative UMP, die politische Heimat der Bauern, Rentner und Kaufleute. So leidenschaftslos, wie sie gewählt wurden, so wenig Interesse zeigten beide Parteien an ihren neuen Wählern und den Problemen der ländlichen Regionen.

Nach dem Verschwinden der Minen leerte sich das Dorf meiner Großmutter. In den 1990ern wurde es mit einem Nachbarort zusammengelegt und verlor sogar seinen Namen. Die Geschäfte schlossen, selbst der Markt öffnete seltener. Die jungen Leute zogen weg, die Alten blieben. Auch meine Mutter verließ die Region, weil sie sich in einen Deutschen verliebte. Die Bevölkerung in ihrer Heimat schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg – besonders bei den Jugendlichen. Schlecht ausgebildete Menschen wie mein Cousin waren zum Nichtstun verurteilt. Die Schließung der Zechen, die Krise der Autohersteller, die Automatisierung in vielen Betrieben, das alles hat dazu geführt, dass große Teile seiner Generation ihr Land eigentlich nur im Abschwung kennen. In solch einer Situation erscheint es mir nachvollziehbar, dass die Menschen für die einfachen Rezepte des Front National empfänglich sind. Du bekommst wieder Arbeit, wenn die Migranten weg sind, alles wird gut, wenn wir aus der von Deutschland dominierten EU austreten und den Vormarsch des Islam stoppen. So einfach.

Vor einigen Wochen ploppte eine Mail auf meinem Telefon auf, Betreff „Inscription Liste Electorale“. Meine Mutter schickte mir einen Link zur Seite des französischen Wahlleiters. Man kann sich dort auf der Wahlliste eintragen lassen, als sogenannter Auslandsfranzose muss man sich registrieren. Seit sie vor 35 Jahren Frankreich verließ, hat sie nicht mehr gewählt. Wem sie diesmal ihre Stimme gibt, weiß sie noch nicht. Hauptsache gegen Marine Le Pen.

Ihr Bruder, mein Onkel also, wird am Wahltag wohl wie jeden Tag in seinem Bistro stehen, das er vor zehn Jahren am Marktplatz eröffnet hat. Dort treffen sich heute auch wieder die Trinker, diesmal aber keine Minenarbeiter. Es kommen die Alten und die Übriggebliebenen, jene, die es sich leisten können, hierzubleiben, weil sie Rente oder Arbeitslosengeld beziehen. Bei meinem letzten Besuch stand auch mein Cousin noch hinter dem Tresen. Verdiente sich ein wenig Geld dazu. Inzwischen ist er in den Süden gegangen, arbeitet dort in Cafés, in Bars. Wieder einer weniger im Dorf meiner Großmutter.