„Ich werde nicht heiraten.“ Vor fünf Jahren war die Sache für Maysoon Jayyusi klar. Die Palästinenserin war 31 Jahre alt und geschieden. Sie hatte sich in Ramallah, dem politischen Zentrum des Westjordanlandes, ein eigenes, ein unabhängiges Leben aufgebaut. Tagsüber arbeitete sie beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Ostjerusalem, danach kümmerte sie sich um ihre kleine Modeboutique im Zentrum Ramallahs. In ihren wenigen freien Minuten tat sie das, was ihr am allerliebsten war: Sie trat aufs Gaspedal. Und weil sie ein Leben als Rennfahrerin um keinen Preis aufgeben wollte, sagte Jayyusi eben genau das in die Kamera: „Ich werde nicht heiraten.“
Die Kamera gehörte der Filmemacherin Amber Fares, die 2010 mit den Dreharbeiten für ein ambitioniertes Langzeitprojekt begann: dem Dokumentarfilm „Speed Sisters“ über Maysoon Jayyusi und vier weitere Palästinenserinnen.
„Autorennen zu fahren ist mein Leben“, sagt Jayyusi damals wie heute. Dass es dazu kam, sei den Checkpoints der israelischen Soldaten zu verdanken, die Ostjerusalem und Ramallah durch eine stark gesicherte Sperranlage trennen. Zweimal täglich musste die Palästinenserin dort hindurch, die Fahrt zwischen den beiden Städten, die keine dreißig Kilometer voneinander entfernt sind, konnte so manchmal Stunden dauern.
„In der Schlange zu stehen und zu warten hat mich immer sehr wütend gemacht“, sagt Jayyusi. „Als die Kontrolle dann endlich hinter mir lag, wollte ich nur noch davonfliegen.“ Eines Tages fuhr Khaled Qaddoura hinter ihr, der Chef des palästinensischen Motorsportverbandes. Weil ihm der rasante Fahrstil gefiel, lud er Maysoon Jayyusi zum Training ein. So wurde sie eine Speed Sister – eine von fünf jungen palästinensischen Frauen, die mit getunten Straßenwagen bei den sogenannten Speed Tests gemeinsam mit Männern um die Wette fahren. Nicht um pure Schnelligkeit wie auf den Zielgeraden der Formel-1-Rennen geht es dabei, sondern um Geschick und Wendigkeit. Einen Speed Test gewinnt, wer in einem abgesteckten Parcours am wendigsten um Pylonen und enge Kurven driftet, oft mit quietschenden und qualmenden Reifen.
Im ganzen Westjordanland finden diese Wettbewerbe statt, auch in Dschenin, einer der ärmsten und konservativsten Städte der Palästinensergebiete. Für den Parcours wird kurzerhand der Platz frei geräumt, auf dem sonst Gemüse verkauft wird. Am Tag des Rennens drängen sich die Zuschauer auf den Dächern der umliegenden Markthallen, um das Geschehen besser verfolgen zu können.
In Dschenin stieß auch Filmemacherin Amber Fares auf das Team. „Eine Szene werde ich nie vergessen“, erinnert sie sich. „Wir standen nachts auf einer dunklen Straße. In der Mitte drehte sich ein Mädchen in seinem Auto bei Vollgas im Kreis. Die Jungs standen voller Bewunderung um sie herum und feuerten sie an. Ich wusste: Da ist eine Geschichte, und ich will sie erzählen.“
Also überzeugte Fares die Speed Sisters von ihrem Projekt. Neben Maysoon Jayyusi sind das: die stille Mona Ennab, die als erste palästinensische Frau an einem Autorennen teilnahm und ihre Freizeit am liebsten in der Autowerkstatt verbringt. Noor Daoud, die als gebürtige Texanerin mit Wohnsitz in Ostjerusalem auch bei einem Rennen in Israel mitfahren durfte – und dafür Kritik aus den eigenen Reihen einstecken musste, weil das einigen Palästinensern als „Kollaboration mit der israelischen Besatzungsmacht“ gilt. Die alleinerziehende Mutter Betty Saadeh, die in Kalifornien und Chile zur Uni ging und deren Familie als einzige genügend Geld hat, um das teure Hobby der Tochter angemessen zu finanzieren. Und Marah Zahalka, die Jüngste im Team, die schon als kleines Mädchen auf dem Rücksitz ihrer Mutter, einer Fahrlehrerin, ihre Liebe für Autos entdeckte und mit zehn Jahren heimlich die erste Spritztour unternahm.
Fünf Jahre lang begleitete Fares die Frauen. Im Dezember 2014 war „Speed Sisters“ als Eröffnungsfilm beim Ajyal Youth Film Festival in Katars Hauptstadt Doha erstmals zu sehen. Nun soll die Dokumentation auf Festivals weltweit laufen. Sie zeigt die fünf Frauen – so viel ist den bislang veröffentlichten Ausschnitten und dem Trailer zu entnehmen – nicht bloß bei den Rennen. Auch die Schwierigkeiten, mit denen sie im täglichen Leben zu kämpfen haben, werden thematisiert.
Dazu gehören die israelischen Soldaten im Westjordanland, die mit den vielen Checkpoints und Kontrollen das Leben aller Palästinenser prägen. Möglicherweise ist es genau diese beschränkte Bewegungsfreiheit im eigenen Land, die den fünf Frauen die freie Fahrt so lieb und teuer macht. „Die Situation zermürbt die Menschen“, sagt Marah Zahalka, die jüngste und schnellste der Speed Sisters, in einem Vortrag auf der TedXTeen-Konferenz in New York und berichtet von einer wochenlangen Ausgangssperre, die sie in ihrer Heimatstadt Dschenin erlebte. Wegen des großen Flüchtlingslagers und der zahlreichen Selbstmordattentäter, die während der Zweiten Intifada zwischen 2000 und 2005 von dort kamen, genießt der Ort außerhalb Palästinas einen eher zweifelhaften Ruhm.
Das Schlimmste sei, wenn die Menschen aufgrund der Besatzung aufhörten zu träumen, sagt Zahalka: „Ich habe beschlossen, dass ich das nicht zulassen will. Ich weigere mich, eine Gefangene zu sein.“ Auch Noor Daoud sagt im „Speed Sisters“-Trailer: „Wenn ich fahre, bin ich frei.“
Natürlich stoßen die fünf Frauen dabei auch auf Widerstände. „Wenn du als Frau Autorennen fahren willst, sind erstmal alle dagegen“, sagt Maysoon Jayyusi im Interview. „Die Eltern, die Verwandten, alle sagen: Du bist eine Frau, was soll das? Das ist viel zu gefährlich. Du gehörst ins Haus.“ Und Noor Daoud, die in Dubai für Rennen trainiert und dort mittlerweile auch anderen Frauen das Driften beibringt, bestätigt: „Solche Kritik hört man immer wieder. Von der eigenen Familie, von Männern ganz generell.“
Keine der fünf Frauen hat auf diese Kritik gehört. Stattdessen ließen sie die Leute reden und haben noch härter gearbeitet: an ihren getunten Wagen und an sich – so lange, bis sie anfingen, für die Männer zur echten Konkurrenz zu werden. Und siehe da: Viele Männer, die anderen Fahrer, auch viele Verwandte jubeln heute für die fünf Frauen und sind stolz auf die Speed Sisters – auch weil sie ein modernes, ein weltoffenes Palästina repräsentieren.
Denn das Westjordanland ist – anders als der inoffiziell von der Hamas kontrollierte Gazastreifen – eine durchaus liberale Gesellschaft, in der es leichter gelingen kann, alte Traditionen mit ein bisschen Beharrlichkeit zu überwinden. Das geht zum Teil sogar ebenfalls auf die Auseinandersetzung mit Israel zurück: Viele junge Palästinenser reisen und studieren im Ausland, weil sie dort den Konflikt hinter sich lassen können und bessere Chancen für sich sehen.
Sie habe mit ihrem Film Vorurteile aufbrechen wollen, sagt Amber Fares – in erster Linie auch ihre eigenen. Fares ist eine Außenstehende, was die palästinensische Gesellschaft betrifft. Sie stammt aus Kanada. Ihre Großeltern zogen einst aus dem Libanon nach Nordamerika. Erst als sie sich nach 9/11 zum ersten Mal als „Araberin in Kanada“ gefühlt hatte, brach sie in den Nahen Osten auf. Um ihre arabischen Wurzeln zu erkunden, wie sie sagt.
„Entgegen meinen Erwartungen habe ich festgestellt, dass es in Palästina eine Menge Männer gibt, die die fünf Frauen auf ihrem Weg unterstützt haben“, sagt sie heute. Marah Zahalkas Vater zum Beispiel, der im Flüchtlingslager von Dschenin aufwuchs und seiner Tochter nun ihren Traum erfüllen will. Außerdem sei Palästina nicht Saudi-Arabien, sagt Maysoon Jayyusi: „Bei uns dürfen Frauen schon immer Auto fahren.“
Wenn Jayyusi heute an den Beginn der Dreharbeiten zurückdenkt, muss sie herzlich lachen. „Ich werde nicht heiraten.“ Davon war sie überzeugt. Heute lebt die 36-Jährige mit ihrem Mann in Amman, der Hauptstadt von Jordanien. Auch er ist Rennfahrer. Gemeinsam trainieren die beiden mittlerweile nicht mehr für Speed Tests, sondern für Rallyes – Langstreckenrennen durch die Wüste. Sie vom Training abzuhalten käme ihm niemals in den Sinn.
Marlene Halser, Jahrgang 1977, ist immer wieder als Reporter im Nahen Osten unterwegs. Die Speed Sisters verfolgt sie schon seit Jahren. Leider ist sie nicht halb so schnell.