fluter.de: Evangelische Pfarrer dürfen heiraten und Sex haben. Findest du das nicht unfair?
Ich habe in den Jahren vor meinem Eintritt ins Priesterseminar immer mehr gespürt, welch eine geistliche und physische Kraft aus einem enthaltsamen Leben resultiert. Dieses Geheimnis versuche ich mehr und mehr zu begreifen, werde es aber wohl nie komplett verstehen. Aber ich lebe den Zölibat seit acht Jahren, und inzwischen gehört er zu mir.
Wie bist du überhaupt darauf gekommen, Priester zu werden?
Während meines ersten Studiums hat sich mein Leben radikal geändert. Ich dachte: Wenn es Gott so sehr gibt, wie er sich mir persönlich zu erkennen gegeben hat, dann muss das Konsequenzen haben. Wo ist mein Platz, wo möchte er mich einsetzen? Das zu erkennen war eine lange Entwicklung. Es brauchte mehrere Jahre, bis es klick gemacht hat: Gott schien mich zum Priestertum zu rufen. So habe ich beschlossen, den neuen Weg zu gehen und mich für das Priesterseminar zu bewerben.
Warst du denn wie jeder andere auch mal verliebt?
Zum ersten Mal habe ich mich mit 16 verliebt und danach häufiger, mehr oder weniger stark. Bei den ersten Malen musste ich kämpfen, von der anderen Seite kam da nicht so viel zurück. Es war alles überschaubar, und daraus ist auch nichts Großes entstanden. Im BWL-Studium gab es dann zwei etwas längere Beziehungen, die aber auch nicht über Jahre gingen.
Was ist schiefgegangen?
Schiefgegangen ist nichts, es waren gute Freundschaften. Ich habe nur gemerkt, dass eine heute von vielen gelebte Form von Sexualität meinem eigenen Anspruch, meiner Würde und der meiner Partnerinnen nicht entspricht. Irgendwann habe ich mich dann gegen die üblichen Liebeleien entschieden. Die Veränderung in meinem Leben hatte viele Facetten. Die Sexualität war da ein Bereich, der sich mir in einem neuen Licht gezeigt hat.
Wie zeigt sich Sex, wenn man keinen Sex hat?
Ich leugne meine Geschlechtlichkeit auch heute nicht. Dass ich sie nicht auslebe, heißt nicht, dass ich sie unterdrücke. Das darf und kann ich nicht. Denn dann schneide ich etwas ab, was für meine Person ganz wesentlich ist. Die Sexualität ist ein wunderbares Geschenk, der Geschlechtsakt ist die größte Form körperlichen Sich-Schenkens. Auch die Lust ist eine Gabe Gottes! Die Sexualität zu verdrängen ist unnatürlich und ungesund. Sie gehört zu Mann und Frau dazu, man kann sie nicht einfach wegmachen. Die Frage ist, wie ich mit ihr umgehe.
Nämlich wie?
Auch verheiratete Menschen müssen mit Rücksicht aufeinander und auf die Natur enthaltsam leben können. Wenn sie dann mal nicht zusammenkommen können, wird der nächste Geschlechtsakt zu einer umso größeren Lust und Freude. Was Frau und Mann in der Ehe manchmal aushalten müssen, muss ich halt permanent einüben. Mit der Zeit werde ich aber auch immer weniger versucht.
Wie schafft man es, so diszipliniert zu bleiben?
Die sehr lebendige Beziehung zu Gott und zu vielen Menschen hilft mir dabei. Ich hätte es vor 15 Jahren auch nicht geglaubt, dass ich jemals so frei und ausgeglichen mit der sexuellen Begierde in Enthaltsamkeit leben kann. Ja, ich bin nach wie vor ein ganzer Mann, aber ich kann eine sexuelle Versuchung schnell überwinden. Wenn ich in Versuchung gerate, dann hilft es mir tatsächlich, zu beten.
„Die Sexualität ist ein Geschenk –
die Lust eine Gabe Gottes“
Eine Art Ersatzbefriedigung?
Die Spiritualität hat ja auch eine körperliche Seite – wir sind nur Mensch als Ganzes. Die Seele braucht einen gesunden „Behälter“. Im Umgang mit Menschen kann ich meine Affektivität leben und Gefühle zeigen, Gefühle von anderen aufnehmen und als körperlicher Mensch auftreten.
Als gut aussehender junger Mann in einer exponierten Position übst du auf Frauen sicher eine gewisse Attraktivität aus.
Es gibt ja auch umgekehrt viele attraktive Frauen, die das kirchliche Leben mitgestalten, und es ist eine schöne Erfahrung, von ihnen beispielsweise ein Lob für eine Predigt zu bekommen. Ich kann heute sagen: Ich freue mich einfach über dieses Geschöpf Gottes. Wenn eine Frau einen herausfordert, muss man natürlich aufpassen. Ich mache das Spiel nur innerhalb der nötigen Grenzen mit: Ich erwidere die positive Haltung und die Sympathie, bleibe aber auch distanziert und wahre meine Rolle.
Aber wozu überhaupt die ganze Mühe?
Mein persönliches Motiv: Ich will ganz Gott gehören und ganz da sein für die Menschen – ungeteilt. Das kann ich nur dann, wenn ich niemanden sonst an meiner Seite habe. Das ist das Hauptargument für den Zölibat als eine Art der Keuschheit. Diese Tugend kennt heute fast keiner mehr. Allerdings sollte jeder Mensch „keusch“ leben, denn das heißt, bewusst seine Sexualität aus Liebe leben, um immer reifer und freier zu werden. Das kann ich nur, wenn ich die Grenzen in meiner Geschlechtlichkeit kenne.
Was spricht gegen freie Liebe?
Wenn ich zum Beispiel eine Frau habe, mit der ich Kinder zeuge, eine andere, mit der ich meine Lust auslebe, und eine dritte, die ich personal liebe, also geistig und platonisch. Wenn ich diese drei Ziele und Inhalte einer guten Ehe trenne und wahllos auf verschiedene Menschen aufteile, dann habe ich nicht die Ordnung, die unserer menschlichen Sehnsucht entspricht. Diese drei Prinzipien kann der reife Mensch nur in einer einzigen Beziehung vereinen.
Lady Gaga singt in einem ihrer Songs über Sex mit Jesus. Ein komischer Gedanke, oder?
Allerdings! Der christliche Glaube beruht darauf, dass Gott in Jesus von Nazareth auf die Erde kommt, das ganze menschliche Leid durchmacht, aus Liebe zu uns stirbt und dies durch seine Auferstehung von den Toten „beweist“. Jesus ist nicht jemand, den ich unter sexuellen Vorzeichen lieben kann. Das ist für mich eine gruselige Vorstellung, weil dann ein ganz falsches Verhältnis zu ihm, dem Sohn Gottes, entstanden ist.
„Jeder Mensch sollte bewusst seine Sexualität aus Liebe leben“
Die katholische Kirche ist in ihrer Sexualmoral seit Jahrzehnten unnachgiebig. Zu Recht?
Es ist ein Ideal, das sich an der Wahrheit orientiert. Wenn die Kirche an der Sexualmoral rütteln würde, ganz unabhängig von der Frage des Zölibats, dann wäre ein Garant für moralische Wertmaßstäbe einfach weg. Es muss eine klare, anspruchsvolle Orientierungslinie geben, gerade für Jugendliche. Denn die Welt gaukelt ihnen vor, es sei alles möglich. Das ist nicht wahr. Die junge Generation wird es in zehn Jahren sehr schwer haben, ihr Leben selbst zu bestimmen. Es gibt so viel Verunsicherung. Eine Kirche, die klare Orientierung für lebenswichtige Entscheidungen gibt, ist da sehr wichtig.
Aber passt ihre Strenge ins liberale 21. Jahrhundert?
Mit unseren Werten und Prinzipien laufen wir natürlich total gegen den Zeitgeist. Wenn ein Geistlicher oder eine Ordensschwester in einer Talkshow sitzt und sagt, dass er oder sie zölibatär lebt, ist es ein Anstoß, eine Provokation. Aber die öffentliche Einstellung wandelt sich. Zur Zeit der sogenannten sexuellen Revolution wären Zölibatäre verständnislos ausgepfiffen worden. Mittlerweile erntet jemand doch mehr Respekt, wenn er gut begründet aufsteht und sagt: Ich entscheide mich bewusst für ein Leben in Enthaltsamkeit.
Den Zölibat hat es selbst in der katholischen Kirche nicht immer gegeben.
Man könnte den Zölibat lockern, aber da würde man etwas Großartiges verlieren: nämlich ein deutliches Zeichen für Gottes ungeteilte Liebe zu uns Menschen. Dann würde man auch die Werte der unterschiedlichen Stände aufgeben. Verheiratete lernen von den Zölibatären und umgekehrt. Wenn Priester den Zölibat nicht einhalten können, ist nach meiner Beobachtung in aller Regel etwas faul geworden in ihrer Beziehung zu Gott und zu den Menschen. Sie schauen dann meines Erachtens zu sehr auf sich, anstatt weiter den geistlichen Weg der Ganzhingabe zu gehen, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Manche sagen, dass die priesterliche Enthaltsamkeit ein Grund für die Missbrauchsfälle in der Kirche ist.
Nein, es ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass es da keine Korrelation gibt. Es ist ja auch belegt, dass nichtzölibatäre Männer in weitaus höherem Maße Missbrauch betrieben haben als Priester. Dieses Ergebnis ist zwar eine Entlastung für die Kirche, mildert aber nicht die Schwere der Vergehen ihrer Mitarbeiter.
Wie werden Priesterseminaristen auf die „Entsagung fleischlicher Gelüste“ vorbereitet?
Vielfältig. An erster Stelle durch das Zusammenleben in der Seminargemeinschaft, das auf bestimmten Prinzipien aufgebaut ist: zum Beispiel auf Treue, Nächstenliebe, Demut. Auch gibt es in jedem Seminar einen sogenannten Spiritual, der ein absolutes Vertrauensverhältnis zu den Studenten haben muss und wie ein Arzt zum Schweigen verpflichtet ist. Der kann ihnen auf ihrem Weg helfen und spricht auch von sich aus regelmäßig das breite Thema der Sexualität an. Auch die Beichte gehört dazu.
Was hört der Beichtvater dann so?
In der Beichte kann man wieder von Neuem anfangen, wenn man gefallen ist. Da kommen auch die sexuellen Sünden zur Sprache. Wenn sich ein Student beispielsweise vorgestellt hat, wie eine bestimmte Frau nackt aussehen würde, und dann masturbiert hat.
Gibt es Momente, in denen es dir schwerfällt, das Versprechen gegenüber der Kirche zu halten?
Wenn es mir allgemein schlechter geht, wenn ich träge, faul und unmotiviert bin, bin ich auf allen Ebenen angreifbarer. Da habe ich weniger Lust zu beten und weniger Lust, meinen Diensten in der Gemeinde nachzugehen. Und dann besteht die Gefahr, dass man auch bei der eigenen Keuschheit die Disziplin verliert und nicht in der nötigen Spannung lebt. Es gibt Situationen, in denen ich länger kämpfe. Wie jeder Mann muss auch ich beim Umgang mit einer Frau achtsam sein, damit ich meine Aufmerksamkeit auf ihr Wesen lenke und nicht auf ihre äußerlichen Reize.
Redet man mit den Seminaristen über seine zölibatären Herausforderungen?
Nein, zumindest in deutschen Seminaren nicht so viel. Wenn, dann nur unter ausgesuchten Freunden. Sexualität ist nun mal auch ein sehr intimes Thema. Wenn aber mal einer der Mitbrüder auffällig ist, wenn sich zum Beispiel jemand permanent mit derselben Frau zeigt, da überlegen wir schon gemeinsam, wie wir ihm „helfen“ können.
Was vermisst du am Eheleben am meisten?
Ganz klar die eigenen Kinder. Hin und wieder kommt bei mir schon eine Art Neid auf, wenn ich auf Freunde blicke, die schon eine ganze Familie gegründet haben. Manchmal denke ich mir natürlich auch, wie es wäre, wenn ich eine Frau hätte. Aber wenn ich verheiratet wäre, würde ich womöglich denken, dass es doch schön wäre, Priester zu sein.