Elina schweift ab. Eigentlich sollte sie sich auf die Buchstaben konzentrieren, die ihr Lehrer an die Tafel schreibt, auf die vielen deutschen Wörter, die ihr noch fremd sind, und auf all die anderen Dinge, die man als Teenager eben so zu lernen hat. In Elinas Kopf aber geht etwas ganz anderes vor. In Elinas Kopf ist Krieg. Das heute 15-jährige Mädchen ist mit seiner Mutter aus Tschetschenien geflohen, erst nach Inguschetien und später über die Ukraine und Polen nach Deutschland. Doch auch wenn sie nun sicher ist, hören die Gewaltszenen in Elinas Kopf nicht auf. Sie sieht, wie der Hof ihrer Großeltern bombardiert wird, wie Milizen die gesamte Nachbarsfamilie auslöschen und, am schlimmsten: wie ihr Vater von einer Granate getötet wird – immer und immer wieder. Elina hat ein Trauma, genauer gesagt eine posttraumatische Belastungsstörung, die sie nicht nur daran hindert, sich zu konzentrieren, sondern auch daran, endlich in Deutschland anzukommen.
Elina könnte auch Ahmed, Firat oder Shirin heißen. Ihre Geschichte ist eine jener, die das „Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin“ täglich dokumentiert. Laut Studien sollen
70 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge in Deutschland Gewalt miterlebt haben; 35 Prozent haben Kriegserfahrungen. Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt sogar, dass von der Million Menschen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland geflohen sind, jeder Zweite an einer Traumafolgestörung leidet.
Flashbacks, wie Elina sie erfährt, wenn sie den Tod ihres Vaters immer wieder aufs Neue erlebt, sind typisch. „Die Erkrankten werden von Erinnerungen überrollt, gegen die sie hilflos sind und in denen sie festhängen“, sagt Claudia Bergner vom „Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin“. Die junge Therapeutin arbeitet dort im sogenannten Wohnverbund: Hier werden 45 Frauen therapiert und tagsüber in einer geschützten Umgebung betreut, in Sport-, Garten-, Frühstücks- und Bastelgruppen. „Flashbacks können so intensiv sein, dass der Klient nicht mehr ansprechbar ist und dissoziiert, also nicht mehr im Hier und Jetzt lebt“, erklärt sie.
Das ist belastend und auch gefährlich. Über die Straße laufen, wenn gerade ein Flashback einsetzt – das will man lieber nicht. Zudem entwickeln viele Betroffene Schlafstörungen, leiden unter Albträumen, Panikattacken und Persönlichkeitsveränderungen. Manche misstrauen in der Folge jedem und allem oder werden aggressiv – Symptome also, die für eine erfolgreiche Integration wenig förderlich sind. Und: die vor allem von alleine meist nicht wieder weggehen.
Das Mittel, um über schwere Traumata hinwegzukommen, ist professionelle Hilfe. Bei Elina, dem Mädchen aus Tschetschenien, hat das geklappt: In der Kinder- und Jugendabteilung hat sie in den vergangenen zwei Jahren gelernt, welche Auslöser bei ihr Flashbacks provozieren und was sie tun kann, damit Gewitter und Flugzeuggeräusche keine Panik mehr auslösen, der Puls nicht mehr rast und kein Schweiß ausbricht. Elina hat gelernt, wie sie Klavier spielend ihre Gefühle ausdrücken kann, wie man an schlechten Tagen eine Handpuppe für sich sprechen lässt und es durch Entspannungsübungen schafft, auch mal eine Nacht durchzuschlafen. Sie kann sich besser konzentrieren, schreibt bessere Noten, kommt besser mit ihren Mitschülern klar. Aus der „Willkommensklasse“ konnte sie in eine reguläre Schulklasse wechseln. Doch nur etwa vier Prozent der psychisch kranken Flüchtlinge bekommen therapeutische Hilfe. Es fehlt an Therapieplätzen, an Therapeuten und an Dolmetschern.
Wenn traumatisierte Flüchtlinge Hilfe bekommen, dann meist in den rund 30 Einrichtungen, die die „Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer“, kurz BAfF, miteinander vernetzt. Die finanzieren sich vor allem aus Spenden, Stiftungs- und Projektgeldern. Tatsächlich haben Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts kaum Chancen auf einen Therapieplatz. In dieser Zeit beschränkt das Asylbewerberleistungsgesetz ärztliche Behandlungen nämlich auf die Notversorgung. Eine Blinddarm-OP wird bezahlt, eine Psychotherapie nicht. Zwar gibt es die Möglichkeit, beim Sozialamt Hilfe zu beantragen, aber allzu oft wird daraus nichts – weil Sachbearbeiter oder fachfremde Ärzte den Antrag prüfen oder weil es dem Flüchtling wegen seiner Störung nicht gelingt, seinen Fall schlüssig darzulegen. Traumatisierte Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern haben zudem im Fall ihrer Ablehnung meist nur eine Woche Zeit, um sich einen Anwalt zu suchen und ihre Argumente erneut vorzubringen. „Dabei braucht das Schutz und Zeit“, sagt Elise Bittenbinder, Vorsitzende der BAfF. Es gibt aber Hoffnung, dass bald zumindest mehr Geld da ist: In Notfällen können Psychotherapeuten und Ärzte beantragen, ihre Behandlungen eine Zeit lang über die Krankenkasse abrechnen zu dürfen. Die Situation könnte sich also entspannen. Dolmetscherkosten werden allerdings nicht übernommen. Doch selbst wenn man einen Dolmetscher organisiert, bleibt das Problem, dass eine dritte Person in der Regel den Beziehungsaufbau zum Therapeuten erschwert, sagt Bergner: „Wir versuchen mit unseren Klienten deshalb so schnell wie möglich Deutsch zu sprechen.“
Nach 15 Monaten Aufenthalt bekommen Flüchtlinge ihre Gesundheitskarte und haben dadurch unbürokratischen Zugang zu Psychotherapie, zumindest grundsätzlich. Hat ein Flüchtling allerdings einen Ausbildungsplatz, Arbeit oder Asyl bekommen, muss er seine Therapie wieder abbrechen. Er fällt dann nicht mehr unter das Asylbewerberleistungsgesetz, die Voraussetzung für die psychotherapeutischen Leistungen fehlt damit. Mit einem sicheren Aufenthaltsstatus kann er aber eine neue beginnen.
Bergner hat Patientinnen, die schon im fünften Jahr behandelt werden. „Aber nicht jede braucht eine Langzeittherapie“, sagt sie, „einige können schnell wieder ein selbstständiges Leben führen.“ Oft helfen schon einfache Tricks und Hilfsmittel wie die „Igelbälle“ – Gummibälle mit dicken Noppen, die man knetet, wenn ein Flashback droht. Solche äußeren Reize halten einen in der Realität, signalisieren: „Stopp, das ist nur ein Tagtraum!“, und allmählich kehrt die Kontrolle zurück.