Wenn’s ums Geld geht, wurde es für Musikerinnen und Musiker nicht eben einfacher, seit die Branche immer weniger von den Tonträgern lebt und immer mehr von Streaming und Downloads. Oft erhalten die Künstler nur wenig von den Einnahmen, die ihre Songs digital einspielen. Das Geld bleibt überwiegend bei den großen Musik-Labels wie Universal, Warner und Sony Music. Manche Musiker haben noch Verträge aus CD-Zeiten, laut denen sie nur 10 oder 20 Prozent der Umsätze bekommen. Dabei sind die Produktionskosten für die Musik-Labels gesunken. Es gibt ja bei den neuen Vertriebswegen keine CD mehr, die teuer hergestellt werden muss.
Ein weiteres Problem: Die Branche ist hochgradig intransparent. Je nach Verhandlungsposition haben Musiker ganz unterschiedliche Verträge, und da die meist geheim gehalten werden müssen, ist ein Vergleich kaum möglich.
Transparenz in einer intransparenten Branche: Für jeden Song ist ersichtlich, wer wie viel von den Geldern abbekommt.
Glaubt man der britischen Sängerin Imogen Heap, ist die Lösung aller Probleme endlich da. Eine Technologie soll Musikerinnen und Musikern zu einer fairen Entlohnung verhelfen. Imogen Heap experimentiert als Pioniernutzerin mit dem Modell des Start-ups Ujo, das eine transparente Musikrechte-Datenbank aufbauen will. Auf der Webseite von Ujomusic lassen sich einige Sekunden ihres Songs „Tiny Human“ anspielen. Für den Song hat sie klar definiert, was eine Nutzung kosten würde. Ein Download kostet beispielsweise 60 US-Cent, wenn andere Musiker das Stück sampeln wollen, will Heap 1.500 US-Dollar. Dafür stellt sie alle Tonspuren zur Verfügung.
Der eigentliche Clou: Für jeden Song ist ersichtlich, wer wie viel von den Geldern abbekommt. Von den Einnahmen durch einen Download fließen beispielsweise 91,25 Prozent an Imogen Heap, jeweils 1,25 Prozent an sechs Streich- und Blechblas-Musiker sowie einen Toningenieur. Die eigentlichen Giganten des Musikgeschäfts wie Labels, Musikverwertungsgesellschaften und Musikverlage bleiben außen vor. Das Geld wird nicht etwa von einer trägen Buchhaltungsabteilung mit Verzögerung überwiesen, es wird automatisch auf Basis des definierten Verteilungsschlüssels an alle Künstlerinnen und Künstler weitergegeben.
Ein großes Kassenbuch
Basis von Ujo ist die sogenannte Blockchain, und die sorgt gerade für viel Wirbel. Ursprünglich war sie die Grundlage der 2008 erfundenen Hackerwährung Bitcoin. Die ermöglicht direkte Überweisungen von digitalem Geld. Nicht Banken vermitteln die Zahlungen, sondern eine Art Kassenbuch, das für jeden einzelnen Bitcoin minutiös aufzeichnet, wem er gerade gehört. Diese Datenbank namens „Blockchain“ ist dezentral, sie liegt auf dem Rechner von jedem, der die Bitcoin-Software heruntergeladen hat.
Was ist ein digitales Portemonnaie?
Bargeld befindet sich in Form von Münzen oder Scheinen im Portemonnaie. Digitale Portemonnaies ermöglichen es, Bitcoins aufzubewahren, zu empfangen und zu versenden. Diese „Wallets“ verwalten die Passwörter von einem oder auch von mehreren Bitcoin-Konten. Sie weisen einen als Besitzerin oder Besitzer der verknüpften Bitcoin-Guthaben aus. Die Schattenseiten des Modells: Wird bei einem Hack des Rechners ein Passwort aus der Wallet erbeutet, lässt sich so auch Zugriff auf die Bitcoins erlangen. Und wenn der Rechner mit der Wallet verloren geht oder crasht, verliert man den Zugriff gleich ganz. Es gibt verschiedene Varianten der Wallet-Software, die populärsten listet beispielsweise die Webseite Bitcoin.org auf. Mit der Installation der Software lädt man auch die komplette Blockchain herunter, eine Liste aller jemals getätigten Bitcoin-Transaktionen. Je nach Wallet und nach Rechnerleistung kann es Stunden oder sogar mehrere Tage dauern, bis das abgeschlossen ist.
Vorstellen lässt sich die Funktionsweise so: Will – sagen wir – Miriam über ihr digitales Portemonnaie einen Bitcoin an Max überweisen, schwirrt die Information darüber zuerst in der „Crowd“ aus allen beteiligten Rechnern. Ein Teil dieser Rechner prüft dann, ob alles mit rechten Dingen zugeht: Gehört Miriam der Bitcoin tatsächlich, und hat sie ihn zuvor schon einmal ausgegeben? Ist alles okay, wird die Überweisung zusammen mit anderen Transaktionen der letzten zehn Minuten in einem digitalen Block gespeichert, und der wird an die Kette aller bisherigen Blöcke angehängt – das ist die Blockchain.
Die Kunst der Zweckentfremdung
Und die gilt mittlerweile vielen als eigentliche Innovation hinter dem Bitcoin-Konzept, denn sie lässt sich mit ein paar Tricks für verschiedene Anwendungen zweckentfremden. Wird ein Bitcoin oder ein ökonomisch unbedeutender Bruchteil davon von A nach B überwiesen, lassen sich in die Metadaten der Transaktion weitere Informationen schreiben und so öffentlich in der Blockchain vermerken. So lassen sich unter anderem „Smart Contracts“ basteln – indem man eine Wenn-dann-Bedingung definiert und damit die Grundlage eines Vertrags. Ein solcher „Smart Contract“ vollzieht sich selbst, sobald die vorher definierten Bedingungen erfüllt sind. Ein „schlauer“ Vertrag auf Blockchain-Basis ist es auch, der das Geld für jeden Song von Imogen Heap verteilt.
Für verschiedene Gesellschaftsbereiche gibt es bereits Anwendungskonzepte, die entweder die Blockchain des Bitcoins nutzen oder abgewandelte Klone davon verwenden. Das sächsische Start-up Slock.it will über die Blockchain das Verleihen von Autos, Fahrrädern und alltäglichen Produkten erleichtern. Den großen Firmen der Sharing-Economy wie Airbnb, BlablaCar oder Uber könnte so das Geschäft vermiest werden, da sie als Vermittler womöglich irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Und das US-Start-up Follow My Vote will sogar Wahlen per Blockchain durchführen, bei denen jeder nachprüfen kann, ob seine Stimme tatsächlich gezählt wurde. All diese Gründer glauben an die große Disruption, wie es in der Start-up-Sprache heißt: dass ihr Konzept alle Verhältnisse auf den Kopf stellt.
Schöne Technologie und raue Wirklichkeit
Ob die Erwartungen an die Technologie tatsächlich berechtigt sind, lässt sich allerdings noch kaum sagen. Bei den visionär klingenden Blockchain-Konzepten handelt es sich mitunter lediglich um gut klingende Ideen, im besten Falle ist man in einer Erprobungsphase. Ujo hat mit Imogen Heap zurzeit genau eine Pilotnutzerin seines Prototyps, und bis Anfang September gab es nur 147 Downloads. Zudem pausiert der Dienst gerade. Wer auf den Download-Knopf klickt, liest: „Das Kaufen ist zurzeit deaktiviert, sorry.“ Auf Nachfrage heißt es bei Ujo, dass man gerade an der nächsten, technologisch überarbeiteten und noch viel besseren Version der Plattform arbeitet.
Der Wiener Musikwirtschaftsprofessor Peter Tschmuck beobachtet seit langem das Wechselspiel von Technologie und Musikgeschäft. Die Idee einer neuartigen Musikdatenbank, die Transparenz herstellt und Musiker besserstellt, findet er interessant, er rät aber zur Besonnenheit. Dass eine Technologie die Welt vom Kopf auf die Füße stellt, könne man natürlich nie ausschließen. Bei allen Blockchain-Konzepten der Musikindustrie müssten gerade die großen Akteure mit im Boot sein, vor allem die Labels, so Tschmuck. Ansonsten würde das wenig Sinn machen: „Wenn nur die kleinen, unabhängigen Labels und Musiker Daten einspeisen, kriege ich in 100 Jahren keine Datenbank zusammen.“ Und bei den Großen der Branche sei zu bezweifeln, dass sie an mehr Transparenz und Verteilungsgerechtigkeit interessiert sind. Immerhin lebten sie ja bisher recht gut mit den bestehenden Strukturen. Und es wären wohl auch nicht alle Künstler daran interessiert, dass alle Informationen über die Einnahmenverteilung öffentlich sind. „Wo der Wille fehlt, kann auch eine noch so wundervolle Technologie wenig bewirken.“
Foto: Kirill Golovchenko/Agentur Focus