Die Wahlbeteiligung lag dieses Mal bei über 75 Prozent. Wie hoch war die Wahlbeteiligung der Erstwähler – und wie bewerten Sie diese Zahl?
Die endgültigen Zahlen vom Bundeswahlleiter stehen noch aus. Die kommen in den nächsten Wochen. Laut einer Prognose von Infratest dimap haben aber 66 Prozent der berechtigten Erstwähler ihre Stimme abgegeben. Bei der letzten Bundestagswahl waren es 64,2 Prozent. Die Wahlbeteiligung ist also in dieser Gruppe etwas gestiegen, aber nicht so stark wie insgesamt.
Woran liegt das?
Generell ist die Wahlbeteiligung bei jungen Menschen niedriger. Meist, wie auch diesmal, um die zehn Prozent. Die Beteiligung hängt davon ab, ob Themen verhandelt werden, die junge Menschen besonders ansprechen, ob Parteien antreten, die Jugendliche ansprechen und wie der Wahlkampf verlaufen ist. Wenn das alles nicht stattfindet, gibt es auch keine Zunahme bei der Wahlbeteiligung.
Warum haben die Parteien in Deutschland es nicht geschafft, junge Wähler zu motivieren?
„Die Parteien zielen sehr stark auf ältere Menschen – wohlwissend, dass ein Drittel der Wählerinnen und Wähler älter als 60 Jahre ist“
Die Parteien zielen sehr stark auf ältere Menschen – wohlwissend, dass ein Drittel der Wählerinnen und Wähler älter als 60 Jahre ist. Dann weiß man von dieser Altersgruppe auch noch, dass sie eher wählen geht. Klar berücksichtigt man sie dann in der Wahlwerbung besonders stark. Einerseits liegt das Desinteresse der Jungen also am Wahlkampf. Andererseits auch am parteipolitischen Angebot. Die Grünen waren mal eine jugendliche Partei, sie schneiden bei jungen Leuten auch immer noch sehr gut ab, aber nicht mehr so wie früher. Und eine sehr jugendliche Partei, wie zum Beispiel die Piraten es waren, hat es diesmal nicht geschafft. Die allgemeine Mobilisierung ist offensichtlich an der Gruppe der Erstwähler vorbeigegangen.
Was heißt das für die Zukunft derer, die jetzt Erstwähler waren?
Generell gibt es die Regel: Wer beim ersten Mal nicht wählen geht, bei dem besteht die hohe Gefahr, dass er beim zweiten Mal auch nicht geht. Die Wahlbeteiligung geht in der Gruppe zwischen 21 und 25 Jahren noch einmal runter, also bei den Zweitwählern. Da ist sie üblicherweise am niedrigsten. Die erste Wahl ist was Neues, Spannendes. Dieses Moment fällt dann weg. Bei den älteren Generationen gibt es die sogenannte „Wahlnorm“, die Haltung, dass man wählen gehen soll, weil es Bürgerpflicht ist. Das ist ein Verständnis einer staatsbürgerschaftlichen Rolle, die bei Jüngeren nicht so ausgeprägt ist. Das kann dazu führen, dass man Wählen als weniger wichtig wahrnimmt. Man entscheidet von Wahl zu Wahl, ob es sich lohnt.
„Der Wähler ist wählerischer geworden“
Ist für junge Wähler die Demokratie zu selbstverständlich?
Die Frage, die wir uns stellen ist: Warum nimmt die Wahlnorm ab? Insgesamt gibt es eine abnehmende Partei-Identifikation. Junge Menschen legen viel mehr Wert auf Freiheit und Ungebundenheit, auch politisch. Man kann sagen: Der Wähler ist wählerischer geworden.
Welche Rolle spielt das soziale Umfeld dabei, ob und wem ein Erstwähler seine Stimme abgibt?
Es gibt noch immer Milieuzusammenhänge. Man orientiert sich daran, was die Eltern machen oder die Freunde. Wer in einem Milieu aufwächst, in dem man wählen geht, der wird natürlich auch selbst eher wählen. Die Wahlbeteiligung hängt vom Grad der Bildung, des Einkommens und so weiter. ab. Bei der Wahl der Partei spielt das Elternhaus keine große Rolle.
Bei dieser Wahl haben mehr Menschen aus arbeiternahen Milieus abgestimmt. Mit Ausnahme der Jungen. Warum?
Das ist ein Rätsel. Ja, gerade bei den Arbeiterinnen und Arbeitern ist die AfD eine Alternative zur SPD und Linkspartei, aber auch zur CDU geworden. Die AfD hat es geschafft, als Partei der kleinen Leute interessant zu werden. Das trifft bei jungen Menschen nicht so zu. Da liegt der Wert unter dem bundesweiten. Das meine ich, wenn ich sage, dass ungleichmäßig mobilisiert wurde. Die AfD war für viele Ältere eine Alternative, für Jüngere eher nicht. Und es gibt einen großen Unterschied zwischen Ost und West.
Wie sieht der aus?
Der Stimmenanteil der AfD unter den Erstwählern liegt in den alten Bundesländern bei 7, in den neuen bei 17 Prozent. Das ist schon spektakulär. Wir gehen immer davon aus, dass fast 30 Jahre nach der Wende auch mal Schluss ist mit den Unterschieden. Jetzt sieht man, dass das nicht der Fall ist. Das überträgt sich auch auf junge Menschen.
Warum findet kein Ausgleich statt?
Das hängt wahrscheinlich mit der Frage zusammen, welche Perspektiven sich junge Menschen im Osten und im Westen ausrechnen. Wir haben im Osten immer noch ein größeres Problem mit Arbeitslosigkeit, die wirtschaftliche Situation ist schlechter. Da entsteht vielleicht auch bei jungen Menschen eher der Eindruck von Perspektivlosigkeit. Gerade junge Männer neigen dann dazu, Rechtsaußen zu wählen. Sie haben das Gefühl abgehängt zu werden, fühlen sich von Migration stärker bedroht.
„Man geht dann wählen, wenn man das Gefühl hat, dass die eigene Stimme etwas bewirkt. Wenn Großbritannien zum Beispiel nochmal über den Brexit abstimmen würde – ich denke, sehr viele junge Menschen würden sich diesmal daran beteiligen“
Was kann man tun, um alle jungen Bürger gleichermaßen zum Wählen zu motivieren?
Es gibt eine Debatte um die Frage, ob Wählen zur Pflicht werden sollte. Ich denke aber, das passt nicht in ein Bild vom Bürger, der frei entscheidet. Die zweite Option sind selbstbewusste Kampagnen. Da ist einiges versucht worden vor dieser Wahl, zum Beispiel die Youtuber-Interviews mit den Kanzlerkandidaten. Die wurden zwar in den klassischen Medien nicht so positiv wahrgenommen. In der Community haben das aber immerhin drei bis vier Millionen junge Menschen gesehen. Am wichtigsten ist: Man geht dann wählen, wenn man das Gefühl hat, dass die eigene Stimme etwas bewirkt. Wenn Großbritannien zum Beispiel nochmal über den Brexit abstimmen würde – ich denke, sehr viele junge Menschen würden sich diesmal daran beteiligen. Es muss klar sein: Es ist nicht egal, wer regiert. Es gibt Unterschiede zwischen den Parteien.
Wie unterscheidet sich die jetzige Generation von Erstwählern von denen der letzten drei Bundestagswahlen?
Das Thema Arbeitslosigkeit ist viel weniger präsent. Darunter leidet vor allem die SPD. Dafür gibt es andere Unsicherheiten, die dazu führen, dass auch die CDU/CSU unter jungen Leuten wählbar wird. Das war früher ganz anders. Verlässlichkeit und Stabilität sind wichtiger geworden. Die Digitalisierung ist ein Riesenthema. Deswegen hat auch die FDP diesmal bei den Erstwählern ganz gut abgeschnitten.
Laut den bisherigen Zahlen hat die FDP mit 13 Prozent sogar am stärksten bei den Wählern zwischen 18 und 29 zugelegt. Was hat die Partei da richtiggemacht?
Zum einen hatte sie eine relativ schlaue Kampagne, auch vom Design und – ich sag mal – „Style“ her. Das Zweite ist eben die Digitalisierungsthematik. Bei jungen Menschen braucht man nicht mit Steuersenkungen anzukommen. Die Digitalisierung betrifft die Wirtschaft, die Bildung und die persönliche Kommunikation der Erstwähler. Es ist noch nicht einmal ein kontroverses Thema, es gibt keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Parteien. Die FDP hat sich das aber als Markenthema zunutze gemacht.
Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich haben besonders die jungen Leute Linksaußen gewählt. 30 Prozent erzielte da etwa der linke Jean-Luc Mélenchon in der ersten Runde. In Deutschland hat es die Linke bei den unter 25-Jährigen auf gerade mal elf Prozent geschafft.
Solche Parteien haben es schwerer in wirtschaftlich stabilen Zeiten. In Frankreich ist die Jugendarbeitslosigkeit viel höher, da zieht eine links-außen-Argumentation stärker. Auch in Großbritannien haben junge Menschen mehr auf Corbyn reagiert als hier auf Schulz. Hier sind Ängste und Besorgnisse, was die Umwelt angeht zum Beispiel, gerade größer. Die Grünen haben bei den Erstwählern 15 Prozent. Und wieder das Thema: Verlässlichkeit. Sodass auch die Jungen mit der Kanzlerin übereinstimmen (Anm. d. Redaktion: Die CDU hat laut Forschungsgruppe Wahlen 25 Prozent bei Wählern zwischen 18 und 29).
Wie würde die kommende Regierung aussehen, wenn nur Jungwähler gewählt hätten?
Vielleicht hätten wir dann ein anderes Parlament, eines mit noch mehr Parteien. Die großen Volksparteien haben bei den jungen Leuten noch schlechter abgeschnitten, es würde noch nicht mal für eine Große Koalition reichen. Jamaika würde recht gut funktionieren.
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