Bereits nach ein paar Seiten dreht sich der Kopf. Es ist wie ein Rausch, in den Peter Pomerantsev seine Leser hineinschreibt; so grotesk sind die Fernsehmacher, Künstler, Politiker, Models, Prostituierten, Verbrecher, Nachtwölfe-Biker oder Sektengurus, so absurd die Momentaufnahmen, die der Autor einem da aus dem Russland der Nullerjahre hinknallt. Man fragt sich: Sind die echt? Oder bin ich im Kino?

In „Nichts ist wahr und alles ist möglich“ beschreibt der Journalist Peter Pomerantsev seine Erlebnisse in Putins Russland als eine Reality-Show, in der Propaganda nicht nur als Wahrheit verkauft, sondern von der breiten Bevölkerung auch als solche geglaubt wird. Wer verstehen will, wie der russische TV-Sender Kanal 1 den Fall der verschwundenen Lisa in Berlin so ausschlachten konnte, dass es in Deutschland vielerorts zu Demonstrationen aufgebrachter Russlanddeutscher kam, obwohl die Geschichte der Vergewaltigung an jenem Abend allem Anschein nach erfunden war, der kommt an Pomerantsevs Buch nicht vorbei.

Gangster, Golddigger und gute Unterhaltung

Um es gleich zu sagen: Es ist das derzeit beste Buch über die Mechanismen dieser „postmodernen Diktatur“ (Pomerantsev). Der Autor tut dies nicht wie all die Polit-Experten, die vorgeben, in Putins Kopf blicken zu können, also analysierend, sondern erzählend: plastisch und packend, mit einer rockigen, coolen Sprache, deren Wörter und Bilder bewegen und verstören. Und das, ohne den Namen des russischen Präsidenten nennen zu müssen. Auch das hat Methode. Denn Putin ist der Geist, der diesem System der Dauerinszenierung Leben einhaucht.

Aber eins nach dem anderen. Pomerantsev ist das Kind russisch-ukrainischer Dissidenten, die in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre nach London auswanderten. Fasziniert von dem Russland, das Anfang der Jahrhundertwende – angetrieben von Öl-Milliarden und einem jungen, selbstbewussten Präsidenten – die wirtschaftlichen Abgründe der 1990er-Jahre hinter sich lässt, zieht er nach Moskau. Dort beginnt er in der zentralen TV-Schaltstelle.

Wer ist der Feind der Woche?

Für den Unterhaltungssender TNT produziert er Reality-Formate und Dokus. So beispielsweise über die sogenannten Golddigger, junge Frauen, die sich darauf spezialisiert haben, sich einen der schwerreichen Oligarchen zu angeln – oder über einen Gangster aus Wladiwostok, der sein Leben in trashigen Filmen und später in Schundromanen inszeniert. Als Mann aus London wird „Piiitr“, wie er von seinen Kollegen auf Russisch genannt wird, mit offenen Armen empfangen. Die Filme, die bei TNT produziert werden, sollen positiv unterhalten. Sie dürfen nicht zu pessimistisch und vor allem nicht politisch sein.

„Völlige Freiheit für völliges Mundhalten“, schreibt Pomerantsev, der gleich zu Beginn seiner Arbeit einem Meeting beiwohnen darf, bei dem einer der wichtigsten Fernsehmacher des Landes die Spielregeln erklärt: „Wir wissen doch alle, dass es keine echte Politik geben wird. Aber wir müssen unseren Zuschauern trotzdem das Gefühl vermitteln, das irgendwas passiert. Die müssen unterhalten werden. Also, womit sollen wir rumspielen? Die Oligarchen attackieren? Wer ist der Feind der Woche? Politik muss sich anfühlen wie … wie ein Film.“

Der ganz große Maskenball

Ein Film über eine junge Unternehmerin, die aufgrund eines internen Machtkampfes zwischen dem Geheimdienst FSB und der nationalen Drogenpolizei im Gefängnis landet und nur freikommt, weil Medien und Menschenrechtler diesen Machtkampf öffentlich zu inszenieren wissen, darf natürlich nur in abgeschwächter Version gesendet werden. Wie auch die todtraurige Geschichte über das Model Ruslana Korschunowa, die in die Fänge einer sektenähnlichen Gruppierung geriet und sich 2008 mit einem Sprung von einem New Yorker Hochhaus das Leben nahm. All das hat damit zu tun, dass das System auf den inszenierten Schein als Kontroll- und Machtmittel setzt, dass die Menschen sich in diverse Identitäten aufspalten (müssen), die sie ganz nach Zweck abstellen und aktivieren können, um Korruption, Betrug und andere Verbrechen vor sich selbst rechtfertigen zu können. „Ich bin Liberaler … das kann alles heißen“, zitiert Pomerantsev einen jungen „Naschi“-Aktivisten der Putin-Jugend, womit er auch zeigt, dass Begriffe wie Nationalist, Faschist oder Linker in solch einem System bis zur Bedeutungslosigkeit gedehnt werden können.

„Theatervorstellung – das war wohl das Wort, das die Stadt am besten beschrieb: eine Welt, in der Gangster sich als Künstler verstanden, in der die Glückssucher Puschkin zitierten und Hell’s Angels glaubten, sie seien Heilige. Russland hatte schon so viele Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle in einer ungeheuren Geschwindigkeit kommen und gehen sehen – Kommunismus, Perestroika, Schocktherapie, Verelendung, Oligarchie, maßloser Reichtum –, dass seine neuen Helden glauben mussten, das Leben sei nichts weiter als Maskerade ...“

Pomerantsev beschreibt im Reportage-Stil, wie diese Inszenierungen funktionieren, wer sie in den Neunzigern erdacht und wer sie unter Putin – der von einer „grauen Motte in einen Macho-Staatsführer“ verwandelt wurde – professionalisiert hat, wer von ihnen profitiert und welche Folgen sie haben. Er selbst kehrte 2011 nach England zurück, weil er nicht mehr in einer Welt leben wollte, in der „Worte nie das bedeuten, was sie zu bedeuten vorgeben“.

Peter Pomerantsev: „Nichts ist wahr und alles ist möglich. Abenteuer in Putins Russland“. DVA, München 2015, 304 S., 21,99 Euro

Ingo Petz hat in Russland und Köln Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Seit über 15 Jahren arbeitet er als freier Journalist und Autor. Seitdem er sich 1994 in Weißrussland verliebte, lässt ihn das östliche Europa nicht mehr los.