Lange suchen musste man die Krise nicht. Man roch sie ja überall. Durch die andauernden Tarifstreits waren Streiks im öffentlichen Dienst 1976 an der Tagesordnung. Weil auch die Müllabfuhr oft die Arbeit niederlegte, türmten sich riesige Müllberge in ganz London auf und stanken vor sich hin. Und je wärmer es wurde, desto schlimmer wurde der Mief. Ausgerechnet dieser Sommer war der heißeste seit dem Beginn der Aufzeichnung der Wetterdaten in England.
Auf die ungewöhnliche Hitze folgte die lange Dürre, die schlimmste seit 1850. Fuhr man übers Land, sah man statt grüner Wiesen braune Stoppelfelder. Rauchschwaden erfüllten die Luft, weil durch die extreme Trockenheit immer wieder Feuer ausbrachen.
Aufstand gegen den Anstand
Es herrschte Endzeitstimmung in dem Jahr, in dem der Punk laut rülpsend und pöbelnd die Weltbühne betrat. Punk war ein Aufstand gegen den dekadent gewordenen Rock der Hippiegeneration. Er war aber genauso eine Reaktion auf die gesellschaftliche Krise.
Das stinkt doch zum Himmel. Müllberge gehörten in London Mitte der 70er-Jahre zum Stadtpanorama – und wurden zum Symbol der drückenden Krise (Foto: Janine Wiedel Photolibrary / Alamy Stock Photo)
In Großbritannien lagen jedenfalls die Nerven blank. Die Arbeitslosigkeit stieg auf ein Rekordhoch, die Inflation galoppierte, Streiks und Kurzarbeit wechselten sich ab, dauernd fiel der Strom aus, die Schuldenkrise trieb Großbritannien an den Rand des Staatsbankrotts. Und zu allem Überfluss kam noch die Terrorangst wegen des Nordirland-Konflikts dazu: Die IRA (Irish Republican Army) kündigte den Waffenstillstand auf.
Schlechte Nachrichten gab’s an jeder Ecke. Das Land, das noch vor wenigen Jahren als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs und Weltmacht mit vielen überseeischen Gebieten voller Stolz auf sich blickte, war ganz unten angekommen.
Geflasht von den Ramones
Ohne diese Krise kann man nicht verstehen, warum die schnellen, hart gespielten Akkorde der Ramones aus New York solche Wellen schlugen, als sie am 4. Juli im Roundhouse in Camden auftraten. Im Publikum waren ziemlich viele, die kurze Zeit später Punk zu einem der langlebigsten Phänomene der Popkultur machten. Sie waren geflasht von dem aggressiven Sound, der sich da in Amerika entwickelt hatte. Erst in den Garagen in und um Detroit, später in der New Yorker Lower East Side, die damals auch nicht viel einladender aussah als viele Ecken von London. Dort wurde Punk dann zum Massenphänomen.
Auf Krawall gebürstet. Die Sex Pistols gaben dem englischen Punk sein zorniges Gesicht (Foto: picture alliance/AP Images)
Es war unüberhörbar. Die Wut kehrte zurück in den Pop. Das Swinging London der 1960er-Jahre, optimistisch, friedfertig, leicht bekifft, war lange vorbei. Und der Punk brachte die raue Stimmung auf den Punkt: „Eigentlich stehen wir nicht auf Musik. Wir stehen auf Chaos “, sagten die Sex Pistols in ihrem ersten Interview. Sie bekamen im Oktober 1976 einen Plattenvertrag bei der EMI, einem Major-Label. Das hatte keine Punk-Band zuvor geschafft. Ihre Single „Anarchy in the UK“, die am 26.11.1976 erschien, löste ein Erdbeben aus. Sie war laut, vulgär, voll niederträchtiger Freude an der Zerstörung. Die ganze Perspektivlosigkeit der britischen Jugend steckte in dem wütenden Song. Als die Pistols in einer Fernsehsendung den Moderator anpöbelten, weigerten sich die Radiostationen, den Song zu spielen. Er soll damals nur fünf Mal im Radio gelaufen sein. Und ist heute dennoch einer der einflussreichsten Songs überhaupt.
The Clash, die andere große Band des UK-Punk, kam bei CBS unter. Sie waren genauso wütend, aber weniger nihilistisch. Sie sprachen die vielen sozialen Probleme an, die England quälten. Der Schlüsselmoment für ihren ersten Hit war der Notting Hill Carnival, der immer am letzten Wochenende im August stattfindet. Hier feiern die Einwanderer aus der Karibik, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins „Mutterland“ des British Empire gekommen waren.
Weimarer Zustände
Oft wurden sie Ziel von Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung. Schon Ende der 1960er-Jahre nahmen die Übergriffe auf die Minderheiten zu. Gleichzeitig erstarkte die extreme Rechte, die in Großbritannien lange Zeit eine untergeordnete politische Rolle gespielt hatte. Ende der 1970er-Jahre war die National Front die viertstärkste politische Kraft im Land. Über Weimarer Zustände sorgte man sich in Westminster hinter vorgehaltener Hand.
There’s a riot going on. Auf dem Notting Hill Carnival 1976 brachen heftige Straßenkämpfe aus. Die schwarze Bevölkerung Londons wollte sich die Gängelung durch die Polizei nicht mehr gefallen lassen (Foto: Kypros / Alamy Stock Photo)
Am Ende des heißen Sommers 1976 entluden sich die Spannungen in einer zweitägigen Straßenschlacht beim Notting Hill Carnival. Joe Strummer, der Sänger von The Clash, war mittendrin und schrieb danach den Song „White Riot“, die erste Single seiner Band. Der Titel klingt missverständlich. Als ginge es um einen weißen Aufstand gegen die Schwarzen. Doch The Clash hatten das Gegenteil im Sinn. Genau wie sich die Schwarzen gegen die Zumutungen der Polizei wehrten, so sollten sich auch die Weißen gegen die Missstände im Land auflehnen. The Clash hatten ihr Thema gefunden. Nicht nur in Songs, sondern auch mit Auftritten auf Festivals wie Rock against Racism wehrten sie sich gegen Unterdrückung und Diskriminierung.
Die Punks waren nicht die Einzigen, die aus der gesellschaftlichen Krise Großbritanniens hervorgingen. Das tat auch Margaret Thatcher. Die erzkonservative und umstrittene Premierministerin sagte Sätze wie „There is no such thing as a society“. Ein Satz, den auch Johnny Rotten mit seinem maliziös gerollten R hätte ausspucken können. 1979, nach dem „Winter of Discontent“, wurde die „Iron Lady“ zur Premierministerin gewählt und krempelte das Land kräftig um. Sie zwang die mächtigen Gewerkschaften in die Knie, wickelte die Schwerindustrie ab, privatisierte und deregulierte die Wirtschaft und sollte – wie der Punk – die kommenden Jahre nachhaltig prägen.
Titelbild: Peter Marlow / Magnum Photos / Agentur Focus
Felix Denk ist Kulturredakteur bei fluter.de. Seine Lieblingsband aus der Punk-Zeit ist James Chance and the Contortions. Da tauschten einmal pro Monat die Musiker die Instrumente, um bloß nicht zu professionell klingen.