Mohammed Abu Eisha hat die Moschee gerade verlassen und biegt um eine Straßenecke, als der grelle Blitz einschlägt. Der 24-Jährige, schwarze Haare, schwarzer Bart, frisch verheiratet und werdender Papa, hatte sich kurz zuvor von seinem Vater verabschiedet. Sein Mediendesign-Studium hat Abu Eisha vor kurzem beendet. Journalist werden wollte er schon als kleiner Junge. Nun macht er Radio für Kinder. Die Rakete, so wird es später in den Berichten stehen, trifft ihn am 20. November 2012 um 18.44 Uhr, in Deir al-Balah, Gaza, abgeschossen von einem Flugzeug der israelischen Armee. Drei Journalisten wurden an diesem Tag in Gaza getötet, wird Ban Ki-moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), später sagen. Einer von ihnen: Abu Eisha. Doch war er das tatsächlich: bloß ein Journalist?

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Bei den Bildern des Künstlers Sebastian ErraZuriz geht es nicht um zivile Opfer. Er will zeigen, dass doppelt so viele US-Soldaten durch Suizid nach dem Kampfeinsatz sterben als durch feindliches Feuer währenddessen (Foto: Sebastian ErraZuriz)

Bei den Bildern des Künstlers Sebastian ErraZuriz geht es nicht um zivile Opfer. Er will zeigen, dass doppelt so viele US-Soldaten durch Suizid nach dem Kampfeinsatz sterben als durch feindliches Feuer währenddessen

(Foto: Sebastian ErraZuriz)

Wenn irgendwo auf der Welt Bomben fallen, geben uns die Nachrichten Zahlen: Wir erfahren, wie viele Tote es gab, wie viele Verletzte, wer Zivilist war und wer Kämpfer. Die Angaben klingen so genau, dass man sie glauben will. Was wir seltener lesen, weil die Medien es schon aus Platzgründen nicht immer mitliefern können, ist das Kleingedruckte. Woher die Angaben kommen, ob sie überprüft wurden und von wem. In den Wirren eines Krieges lassen sich Zahlen wie diese in Wahrheit kaum herausfinden, erst recht nicht nach ein paar Stunden. Sie täuschen eine Objektivität und Messbarkeit vor, die es nicht gibt. Nicht in Syrien, nicht in der Ukraine. Und auch nicht in Gaza.

Mohammed Abu Eisha lebt nur noch wenige Minuten nach dem Abschuss. Sein Vater, der den Knall kaum überhören konnte, eilt herbei, wartet bei seinem Sohn, bis der Krankenwagen kommt. Auch palästinensische Menschenrechtsorganisationen, die die Opfer in Gaza zählen, erfahren von dem Angriff. Als Abu Eisha im Krankenhaus eingetroffen ist, sprechen Mitarbeiter dieser Organisationen mit Ärzten und Verwandten, sie fragen: Trug er eine Uniform? Eine Waffe? War er Mitglied in der Armee? Dann geben die Mitarbeiter telefonisch durch: Mohammed Abu Eisha, Radiomacher, Zivilist, tot. Sein Kollege und Freund Hussan: ebenfalls tot. Über die palästinensischen NGOs gehen die Angaben weiter an die Vereinten Nationen, die sie mit anderen Zahlen abgleichen und dann als ihre eigenen ausgeben. Am nächsten Abend läuft es in den Nachrichten: Journalist in Gaza getötet. Quelle: UN.

Wer als Zivilist gilt und wer als Soldat, ist völkerrechtlich geregelt, in diesem Fall von der Genfer Konvention. Vereinfacht gesagt ist demnach ein Kämpfer, wer eine Uniform trägt und Befehlen gehorcht. Alle anderen sind Zivilisten. Kämpfer darf man angreifen, Zivilisten nicht. So weit die Theorie.

Als im Jahr 1864 die erste Konvention in Genf unterzeichnet wurde, kämpfte man allerdings in weiten Teilen der Welt immer noch mit dem Säbel und zu Pferde. Armeen bekriegten sich in Formationen wie mit dem Lineal gezogen, in Rauten, Quadraten und schnurgeraden Reihen. Krieg war blutige Geometrie. Je bunter die Uniform, desto besser. Man wollte ja sehen, wer Freund ist und wer Feind.

Heute kämpft niemand mehr mit Säbeln. Die Geometrie von einst ist der Asymmetrie von 2015 gewichen. Staatliche Armee gegen kleine und große Milizen (Syrien), Soldaten ohne Hoheitszeichen gegen Paramilitärs (Ukraine) – die Unterscheidung zwischen Zivilisten und sogenannten Kombattanten war nie so schwer wie heute. Kämpfer ist, wer eine Uniform trägt: Das war einmal.

Als die Nachricht über seinen Tod um die Welt geht, wird Mohammed Abu Eisha gerade beerdigt. Doch die Flaggen, die bei seiner Beerdigung geschwenkt werden, zeigen keine Kameras. Sie zeigen Gewehrläufe und einen stilisierten Panzer. Abu Eisha arbeitete nicht nur als Journalist, er war – in Teilzeit – auch Kämpfer der Al-Quds-Brigaden der Terrororganisation „Islamischer Dschihad“, Artilleriebataillon Gaza-Mitte. Wie konnte es passieren, dass die Medien, sogar Ban Ki-moon, ihn trotzdem einen Zivilisten nannten?

Als er getötet wurde, trug Abu Eisha zwar keine Uniform und keine Waffe. Moderne Völkerrechtler haben das Recht solchen Umständen angepasst. Heute gilt: Auch wer nur in Teilzeit kämpft, macht sich schuldig, ob mit Uniform oder ohne. Und vielleicht haben die Eltern von Abu Eisha, als sie gefragt wurden, seine Mitgliedschaft in der Miliz bestritten. Oder die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen vor Ort haben ihre Arbeit nicht richtig gemacht. So wurde aus Abu Eisha fälschlicherweise ein unbeteiligter Zivilist.

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cms-image-000045568.jpg (Foto: Sebastian ErraZuriz)
(Foto: Sebastian ErraZuriz)

Kriege werden nicht nur mit Waffen geführt, sondern auch mit Zahlen. Jede Seite hat ein Interesse daran, sich gut darzustellen. Verwundete Kämpfer werden verschwiegen, damit der Gegner nicht weiß, wie viele er getroffen hat. Getötete Zivilisten werden hingegen hervorgehoben. Nach dem Motto: Seht her, so brutal ist der Gegner.

Um das zu vermeiden, wird oft gefordert, dass neutrale Beobachter das Zählen übernehmen. Doch auch sie sind auf die Mitwirkung der Kriegsparteien angewiesen. Zuverlässige Zahlen lassen sich deshalb beispielsweise auch in der Ukraine kaum ermitteln. Die Vereinten Nationen veröffentlichen zwar regelmäßig eigene Reports, zum Beispiel für den Winter 2014/2015. Ihre Quelle: ukrainische Behörden sowie ukrainische Krankenhäuser in den Separatistengebieten. Von mindestens 5.665 Toten ist in dem Report die Rede – aber mit Fußnote. Wörtlich steht da: „Die tatsächliche Zahl der Opfer ist vermutlich viel höher, denn militärische und zivile Opfer werden oft nicht gemeldet.“

Nach Syrien wiederum trauen sich nur noch wenige Journalisten und Hilfsorganisationen. Es wurden auch schon Blauhelme von ihrer Mission abgezogen, und selbst UN-Organisationen haben etwa in das Flüchtlingslager Jarmuk keinen Zugang. Einige kämpfen für Assad, andere gegen ihn, und dann ist da auch noch der „Islamische Staat“: Wer sollte in einer solchen Gegend objektiv arbeiten?

Ob bei der BBC, im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ oder im Deutschlandfunk, viele Medien vertrauten – mangels Alternativen – in den ersten Monaten des Krieges der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“. Was wie ein Institut klingt, besteht in Wahrheit aus einem einzigen Exilsyrer im englischen Coventry. Mit seinem Handy trägt er die Daten seiner Informanten aus Syrien zusammen. Auch er wurde schon wegen Parteilichkeit kritisiert. Kämpfer der syrischen Opposition hätte er als Zivilisten deklariert, weil sie keine Uniform trugen. Den Vereinten Nationen wurden solche Opferangaben bald schlicht zu unzuverlässig. Zum Jahresbeginn 2014 hörten sie deshalb zwischenzeitlich auf, die Toten in Syrien zu zählen.

Der Künstler Sebastian ErraZuriz hatte eine Zahl herausgefunden, die ihn bestürzte: Etwa doppelt so viele US-Soldaten sterben durch Suizid nach dem Kampfeinsatz als durch feindliches Feuer währenddessen. Um diese Zahl möglichst öffentlichkeitswirksam zu machen, hat er sie für die Kamera inszeniert – und auch ein bisschen was damit bewirkt: Aufgrund seiner Fotos gab es eine Reihe von Diskussionen auf dem US-Nachrichtensender CNN und einigen Wirbel im Internet. www.meetsebastian.com