„Ich war nachts noch bei einer Freundin. Bekannte hatten erzählt, sie hätten hier schon Wildschweine gesehen. Ich dachte: Unsinn! Als ich gegen drei Uhr morgens nach Hause gehen wollte, traute ich meinen Augen kaum: Da waren sie – ein Rudel von bestimmt vierzig Tieren. Sie blockierten die Straße. Ich traute mich nicht vorbei. Also kehrte ich zu meiner Freundin zurück und schlief bei ihr.“

So vielen Wildschweinen auf einmal zu begegnen ist selbst in freier Natur ein großer Zufall. Die beschriebene Szene jedoch spielt im Berliner Stadtteil Eichkamp, im Sommer 2007. Die 26-jährige Russin Zoya Afanasyeva erzählt davon auf fluter.de: „In Russland wird mir keiner glauben, dass es in Berlin Wildtiere gibt.“

Dabei ist es keine Seltenheit, dass Tiere in Metropolen ziehen. In Zürich leben zehnmal so viele Füchse, Dachse und Igel pro Quadratmeter wie in den ländlichen Gegenden der Schweiz. In New York wird seit Ende der Neunziger eine wachsende Anzahl von Wanderfalken beobachtet, die in der Stadt brüten. Und wartet man im Münchner Osten zu später Stunde auf die Nachttram, kommt eher ein Igel vorbei denn ein Mensch. 

Einer Schätzung des Naturschutzbunds Berlin (NABU) zufolge gibt es in der Hauptstadt 53 Säugetier- und 180 Vogelarten. Die Zahlen sind in den letzten fünfzig Jahren deutlich angestiegen. „Etwa 5000 bis 8000 Wildschweine leben hier“, schätzt Marc Franusch vom Landesforstamt Berlin. Die Tiere merken sich Plätze, an denen sie zu fressen fanden, und kehren dorthin zurück. Nicht alle verlegen ihren Lebensmittelpunkt vollständig in die Stadt: Wildschweine machen auf der Suche nach Nahrung nur Ausflüge in besiedelte Gegenden. Von Tauben, Ratten und mittlerweile auch von Füchsen gibt es jedoch „reine“ Stadtexemplare. 

„Man nennt Füchse, die hier geboren werden, tatsächlich Stadtfüchse“, sagt Marc Franusch. Etwa 1000 bis 2000 gibt es in Berlin. „Ein Stadtfuchs wird, solange ihm nicht die Lebensgrundlage entzogen wird, auch nicht wieder aufs Land zurückgehen“, erklärt Franusch weiter. Das Verhalten des Tieres habe sich auf die neue Umgebung eingestellt: mit neu entwickelten Nahrungsstrategien und einem veränderten Lebensrhythmus. Manche Füchse tauchen in bestimmten Straßenzügen gezielt an den Tagen auf, an denen der Müll abgeholt wird. „Einige harren am Straßenrand aus, weil sie gelernt haben, dass hier regelmäßig andere Tiere überfahren werden“, erklärt Franusch. Deren Kadaver sind Fressen für die Bordsteinfüchse.

Eine ähnliche Entwicklung wie der Fuchs nimmt die Ringeltaube. Ihre Artverwandten, die wir gemeinhin aus den Städten kennen, sind einst aus verwilderten Haustauben hervorgegangen. Während diese den Umgang mit Menschen aus der Erfahrung gelernt hatten, handle es sich bei der Ringeltaube um ein Wildtier, sagt Andreas Kinser, Referent für Forst- und Jagdpolitik der Deutschen Wildtier Stiftung: „Sie ist ursprünglich ein sehr scheuer Waldvogel.“ Mittlerweile komme sie jedoch immer öfter auch in die Stadt, um hier zu brüten. „Wenn man sich ihren Artgenossen im Wald nähert, fliegen diese sofort weg“, so Kinser, „ihre Verwandten in der Stadt lassen sich von Spaziergängern nicht mehr aufschrecken.“ 

Bei Elstern und Krähen sei das ähnlich. All diese Tiere haben erfahren, dass Menschen keine unmittelbare Gefahr darstellen. Ganz im Gegenteil: Für Allesfresser (wie Fuchs oder Wildschwein) ist die Großstadt ein Schlaraffenland mit nicht versiegenden Nahrungsquellen. „Manchmal scheint es, dass sich Tiere leichter auf Menschen einstellen können als umgekehrt“, sagt Kinser. In Berlin wurde reagiert: mit der Einrichtung einer Beratungsstelle. Das Wildtiertelefon klingelt im Durchschnitt etwa zehnmal am Tag. 

Und es gibt weitere Vorzüge der Städte gegenüber ländlichen Gebieten. Auf engem Raum findet sich ein Mosaik unterschiedlicher Lebensräume: Gärten, Teiche, Parks, Hecken, kleine Wälder. Laut Marc Franusch sei gerade die Durchgrünung Berlins ein Standortvorteil für Tiere: „Fast 20 Prozent hier sind Wälder, der Tiergarten und die übrigen Parks nicht mitgerechnet. Und die Biotope sind untereinander äußerst gut vernetzt.“ 

Zudem herrschen in Städten verschiedene klimatische Bedingungen. Ein Beispiel: Im Alten Rangierbahnhof auf dem Schöneberger Südgelände gibt es zehnmal so viele Schmetterlingsarten wie auf landwirtschaftlichen Nutzflächen – dort drinnen ist es trocken und gerade im Sommer sehr heiß. 
Manchmal geht die Anpassung einer tierischen Art so schnell, dass sie sich selbst dabei in Gefahr begibt. So gibt es in Berlin das Phänomen der Balkonenten.

Die häufigste, allseits bekannte Art, die Stockente, weicht aus Mangel an natürlichen Brutplätzen zunehmend auf Balkone aus. Man muss sie jedoch umsiedeln, da der noch nicht flugtüchtige Nachwuchs in die Tiefe stürzen könnte. Die Zahl der Tiere, die von dort geborgen wurden, hat sich zwischen 2003 und 2006 auf mehr als 1200 verdoppelt. 

Trotz dieser Zahlen: Eine vollständige Landflucht der Tiere ist nicht zu befürchten. Auf ein Miteinander müssen sich beide, Mensch und Tier, jedoch einrichten. Ihre Einwohnerzahlen steigen gemeinsam stetig an. Meist klappt das Zusammenleben auch überraschend gut. Und sollten plötzlich vierzig Wildschweine die Straße blockieren, hilft immer noch: weglaufen.