Der erste Besuch auf der Webseite von Kiva.org fühlt sich an wie eine Weltreise im Zeitraffer: Ich treffe Menschen aus Mali, dem Tschad, aus Kenia, Peru, Kolumbien und von den Philippinen. Ich sehe entsetzliche Armut und höre Geschichten, die Hoffnung machen. Ich bekomme einen Eindruck von der Komplexität und Größe der Welt. Das Wort Kiva ist Swahili und bedeutet Einigkeit. Die Organisation, die 2005 von zwei jungen Amerikanern gegründet wurde, hat es sich zum Ziel gemacht, reiche und arme Menschen durch Leihgeschäfte zu verbinden. Mit nur wenigen Mausklicks ist es hier möglich, einem Menschen am anderen Ende der Welt einen Kredit zu geben. Der Slogan ist nicht gerade bescheiden: „Darlehen, die Leben verändern.“ Kiva ist eine Bank neuer Art: Sie hat kein Hauptquartier in einem Wolkenkratzer, sondern besteht aus wenig mehr als einem sozialen Netzwerk. „Social Banks“ oder „Peer-to-Peer“-Banken („P2P“) nennt man Organisationen wie Kiva auch, weil Menschen hier Geld auf eine ähnliche Art und Weise behandeln, wie sie im Netz sonst MP3s, Filme oder Software tauschen – in direktem Kontakt, vermittelt über ein Netzwerk, ohne große, zentrale Institution. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe solcher „sozialer Banken“. Beim Berliner Start-up Smava zum Beispiel kann man Kredite bis zu 50.000 Euro aufnehmen – oder zusammen mit anderen Community-Mitgliedern einem Kreditnehmer, der am Kapitalmarkt kein Geld bekommt, eine Investition oder einen Traum ermöglichen. Die Rendite für die Anleger lag 2009 bei 7,5 Prozent.

Du bist Entwicklungsminister: Ab 25 Dollar geht’s los

Kiva.org ist ein Spezialfall. Hier investiert man sein Geld nicht, um es zu vermehren, sondern lässt andere Menschen damit arbeiten. Fast 650.000 Menschen sind Mitglied der Kredit-Community und haben seit 2005 zusammen mehr als 250 Millionen Dollar aufgebracht, mit denen Menschen in Entwicklungsländern etwa Saatgut kaufen, ein Geschäft eröffnen oder vergrößern können. Es ist eine neue Form der Entwicklungshilfe: Statt Milliarden von Dollar an ineffiziente oder korrupte Eliten zu geben, investiert man in Individuen, verschickt Darlehen statt Almosen, baut Geschäftsbeziehungen auf statt Abhängigkeitsverhältnisse. Investiert man bei Kiva, steht man erst mal vor einer harten Entscheidung: Menschen auf der ganzen Welt brauchen dringend Geld. Aber wem genau soll ich meine 100 Euro geben? Wenn man bei Unicef, Misereor oder einer anderen Hilfsorganisation spendet, dann delegiert man mit der Überweisung auch die Verantwortung und die kniffligen Entscheidungen: Wem soll geholfen werden? Mann oder Frau? Jung oder Alt? Auf welchem Kontinent? Und für welchen Zweck? Auf der Kiva-Startseite gibt es eine Google-Maps-Weltkarte, auf der alle Kreditanfragen mit kleinen Pinnnadeln markiert sind – man schwebt über den Kontinenten, kann in einzelne Länder reinzoomen und fühlt sich einflussreich und hilflos zur gleichen Zeit.

Die Seite wirkt auf den ersten Blick wie eine Online-Dating-Seite. Die potenziellen Kreditnehmer stellen sich mit Name, Alter und einem Foto vor. Da ist also zum Beispiel Amori Ayebazibwe aus Uganda. Ein 30-jähriger Mann, der in stolzer Pose vor dem Regal seines kleinen Kiosks steht, den er seit neun Jahren in der Stadt Lyantonde in der Mbarara-Provinz betreibt. Er will sich 550 Dollar, umgerechnet 1.400.000 Uganda-Schillinge, leihen, um mehr Waren und Lebensmittel kaufen und ein Lager bauen zu können. Er träumt davon, in naher Zukunft einen kleinen Supermarkt zu eröffnen. Kurz: Er setzt auf Wachstum – und braucht dazu meine Hilfe. Neben dem Foto ist ein roter Button angebracht – „Lend now!“. In einem Drop-down-Menü kann ich die gewünschte Summe anklicken, 25, 50, 100, 200, dann geht es weiter zum Warenkorb – möchten Sie weitere Kredite geben? –, und gezahlt wird mit Kreditkarte oder dem universellen Online-Bezahlservice Paypal. Internet-Routine. Schon spektakulär, denke ich: Im 21. Jahrhundert ist es ebenso einfach, in ein afrikanisches Kiosk-Start-up zu investieren, wie eine CD im Internet zu kaufen.

Es ist wie ein Proseminar in angewandter Globalisierung

Ein grüner Balken zeigt an, wie viel Geld dem Kreditnehmer bereits von anderen Investoren zugesagt wurde. Amoris Balken steht zurzeit bei 50 Prozent. Es fehlen noch 275 Dollar. Ich möchte den Bank-Balken aufladen, damit Amori die Kraft hat, seine Ziele zu erreichen. Aber zuvor sind noch ein paar Details zu klären: Der Kredit läuft über 14 Monate. Die Tilgung erfolgt monatlich. Kiva steht nicht direkt in Kontakt mit den Kreditnehmern, sondern arbeitet mit sogenannten Field Partners zusammen. Diese lokalen Helfer sind meist NGOs, Kooperativen oder Mikrokredit-Banken, die die Kreditwürdigkeit des Antragstellers einschätzen, das Geld auszahlen und die Rückzahlungen eintreiben. Wenn Amori scheitert, ist mein Geld weg. Vielleicht ist das der Grund, warum ich plötzlich beginne, wie ein Kreditbanker zu denken. Ich führe ein imaginäres Interview mit Amori: Ist der Einzelhandel in Uganda denn eine Wachstumsbranche, will ich ihn fragen. Wie unterscheiden Sie sich von all den anderen Kleinhändlern? Was ist Ihr Alleinstellungsmerkmal? Wie entwickelt sich die Kaufkraft der lokalen Bevölkerung? Und: Wäre es nicht besser, in eine Zukunftsindustrie zu investieren, ein Internetcafé zum Beispiel? Das sind natürlich blöde Fragen. Aber sie sind auch ein Zeichen des wachsenden Interesses.

Kiva liefert keine Marktdaten. Stattdessen erfährt man, dass Amori verheiratet ist und einen kleinen Sohn hat, er sei angesehen in seiner Gemeinde und ein guter Fußballspieler, verrät das Profil. Eine Bank interessiert sich nicht für solche Informationen. Sie kennt nur die Zahlen. Die persönlichen Daten und die Fotos auf Kiva sollen Nähe herstellen. Am unteren Ende der Webseite sind die Kiva-Mitglieder aufgeführt, die sich an dem Kollektivkredit beteiligt haben. Man lernt, dass auch Arvid aus Schweden und Walter aus Pennsylvania in die Unternehmung von Amori investiert haben. Die Fotos, Profile und Kommunikation erschaffen ein soziales Netz, das wichtiger ist als die volkswirtschaftlichen Makrofaktoren. Ich drücke auf den roten Knopf. Der grüne Balken wächst ein wenig. Amori fehlen nur noch 225 Dollar. Ein gutes Gefühl.

Der Erfolg von Kiva.org erklärt sich dadurch, dass der Mensch, der berühmte Homo oeconomicus, eben nicht nur als rationaler Akteur auf den Märkten agiert, sondern auch ein soziales Tier ist. Auf den Kontoauszügen der Kiva-Nutzer tauchen nicht nur kühle Zahlen und Ratenzahlungen auf, sondern auch der Satz: Du hast einem Menschen geholfen. Diese soziale Rendite ist den Kiva-Nutzern mehr wert als ein hoher Zinssatz. In dem Investment- Portfolio sammeln sich keine Fonds-Anteile, sondern Biografien und persönliche Geschichten. Nach einer Woche besuche ich die Kiva-Seite erneut. Amori hat seinen Kreditbalken nun zu 63 Prozent aufgefüllt. Im Januar 2012 will er mit der Tilgung beginnen. Ich schaue mich weiter auf der Seite um. Investiere wenig später 50 Dollar in einen Call-Shop auf den Philippinen – Telekommunikation, absoluter Wachstumsmarkt, klar – und stolpere dann über die Anfrage von Shinebayar Enkhtaivan, einer 26-jährigen Frau aus der Mongolei. Shinebayar ist keine arme Frau, sie hat studiert und bewohnt eine Mietwohnung in der Hauptstadt Ulan-Bator. Aber ihr fehlt das Kapital, um eine gute Idee umzusetzen. Ich brauche 1.950 Dollar, erzählt sie auf der Kiva-Seite, um die Autowerkstatt meiner Familie zu erweitern. Ihre Strategie ist zumindest in meinen Augen ungewöhnlich: Da es in der Mongolei offenbar einen Mangel an kompetenten Mechanikern gibt, will sie zwei erfahrene Arbeiter aus Vietnam einfliegen – „Ich habe während des Studiums ein paar Vietnamesen kennengelernt, und das soll sich nun auszahlen.“ Shinebayar braucht das Geld, um die Visa und Flugkosten der Arbeiter zu bezahlen.

Das Engagement auf der Kiva-Seite ist auch ein Proseminar in angewandter Globalisierung: Da investiert ein Individuum in Europa, den USA oder Argentinien eine kleine Summe, die um die Welt reist, um eine Frau in Zentralasien in die Lage zu versetzen, ein paar Gastarbeiter aus Vietnam zu engagieren. Ich drücke den roten Knopf. Die unendliche Finanzkrise ist nicht nur eine volkswirtschaftliche Katastrophe, sondern auch ein Image-Debakel für die Bankindustrie. Der sympathische Bankdirektor, der den lokalen Fußballverein unterstützt und seine Kunden mit Namen kennt, ist in den vergangenen Jahren in manchen Köpfen zu einem zynischen Zocker mutiert, der die Weizenpreise in die Höhe treibt und finanzielle Angriffskriege gegen südeuropäische Staaten führt. „Die Krise hat die Menschen zum Nachdenken darüber gebracht, was die Banken eigentlich mit ihrem Geld machen“, sagt Alexander Artopé, der die P2P-Bank Smava führt. „Davon profitiert das soziale Banking, weil Geldgeschäfte hier direkt und transparent möglich sind.“

Die Losung des Internetzeitalters lautet: Eliminate the middleman – schalte den Vermittler aus. Die Bürger haben Zugang zu mehr Informationen als jemals zuvor und neue Werkzeuge, um Einfluss auszuüben. Klassisch-autoritäre Institutionen wie Zeitungsverlage, Kaufhäuser oder Banken merken das. Die Do-it-yourself-Mentalität der Netznutzer beschränkt sich längst nicht mehr auf Filme, Lexikon- Produktion oder Nachrichtenvermittlung, sondern nun auch auf Gelddienstleistungen. 2006 bekam der bangladeschische Ökonom Muhammed Yunus den Friedensnobelpreis für seine Idee des Mikrokredits und sein Engagement für ein Bankenwesen, das jenen hilft, die bislang keine Hilfe der Finanzbranche zu erwarten hatten. Einige Jahre später gab es beunruhigende Hinweise, dass auch Mikrokredite einen unmenschlichen Rückzahlungsdruck ausüben können. So war es in Indien sogar zu Selbstmorden von 17 Frauen gekommen, die Mikrokredite in Anspruch genommen hatten.

Indiz des Erfolgs: Die Raten kommen regelmäßig zurück

2011 zeigte dann aber die erste größere Feldstudie des Massachusetts Institute of Technology und der Universität Yale zur Wirkung von Kleinstkrediten, dass sie die Lebensbedingungen von Menschen in Entwicklungsländern deutlich verbessern. In Regionen, in denen viele Mikrokredit-Institutionen existieren, zeigten die Forscher, werden mehr Unternehmen gegründet, die Kinderarbeit nimmt ab, und auch die Konsumgewohnheiten der Bevölkerung verändern sich: Die Nachfrage nach Investitionsgütern steigt, die nach Alkohol und Tabak sinkt.

Kiva ist Kopfkino: Ich stelle mir vor, was mit meinem Geld in Uganda und der Mongolei passiert, wie Amori und Shinebayar das Geld ausbezahlt bekommen, es investieren und so die Dinge ins Rollen bringen. Ich will natürlich kein finanzemotionaler Spanner sein, aber fast finde ich es schade, dass man die Unternehmensentwicklung nicht direkter mitverfolgen kann. Nur die regelmäßigen Ratenzahlungen, die auf dem Konto eintreffen, sind ein Indiz dafür, dass die Projekte der Kreditnehmer voranschreiten. Ein Kiva-Aktivist, der sich die Sache genauer angesehen hat, ist der amerikanische Reiseschriftsteller Bob Harris: Er hat in den vergangenen zwei Jahren mehr als 2.000 Kleinkredite vergeben und zusammen mit seiner Gruppe „Friends of Bob Harris“ weit mehr als eine Million Dollar gesammelt. Kürzlich ist er von einer Weltreise zurückgekehrt, die ihn unter anderem nach Bosnien, Peru und Kambodscha geführt hat. „Ich wollte sehen, welchen Unterschied meine Investitionen gemacht haben“, sagt er. Seine Erfahrungen verarbeitet er nun in dem Buch „The First International Bank of Bob“. Der Titel ist kein Witz. Im 21. Jahrhundert kann jeder ins globale Geldgeschäft einsteigen. Wir sind Bank.