In Marl kann der Besucher keine fünf Schritte gehen, ohne über eine der zahllosen Skulpturen zu stolpern. Sie sind wie absurde, achtlos verstreute Spielzeuge überall in der Stadt verteilt. Würmer aus Aluminium, Klötze aus Beton, Röhren aus Holz oder eine Nadel aus Edelstahl, die auf einen Punkt im fernen Kosmos weist. Vor dem Theater bröselt rostend eine Dampflokomotive aus dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin. Früher gab es dazu auch noch eine Klanginstallation, aber die ist schon lange kaputt. Der schleichende Untergang ist das Leitmotiv einer Stadt, die, wie immer mehr Kommunen in Deutschland, heillos überschuldet ist.
Jahrzehntelang wurde auf dem halbmondförmigen Gebiet zwischen Recklinghausen im Süden und dem Wesel-Datteln-Kanal Braunkohle, Steinkohle und Erz gefördert. Wer nicht in einer der Zechen arbeitete, der arbeitete im sogenannten Chemiepark, einem riesigen Areal, spezialisiert auf die chemische Industrie und abhängig von der Energie der Kohle, die nebenan aus dem Boden geholt wurde. Auf 120.000 Einwohner schätzte man auch noch Mitte der 1970er-Jahre das Wachstumspotenzial einer der reichsten Städte Deutschlands. Es fehlte nichts, es herrschte Vollbeschäftigung, und es wurde vorbildlich „in die Zukunft “ investiert: Die besten Architekten Europas bauten am Reißbrett ein Zentrum auf der grünen Wiese, im Schnittpunkt der weit verstreuten Stadtteile. Noch in den späten 70er-Jahren plante man ernsthaft eine Schwebebahn, um bequem die weiten Strecken zu überbrücken.
Und dann, Anfang der 90er-Jahre, war es plötzlich vorbei. Zuerst traf es, wie im ganzen Ruhrgebiet, den subventionierten Bergbau. Ein Verlust, den man womöglich noch hätte abfedern können. Wichtige Unternehmen aus dem Chemiepark wechselten nach der Wende in den Osten, wo üppige Fördergelder zur Ansiedlung neuer Industrien lockten. Die Folge war ein drastischer Einbruch der Einnahmen aus der Gewerbe- und Einkommenssteuer. Seit 1991 hat Marl keinen ausgeglichenen Haushalt mehr vorweisen können, die Gesamtschulden belaufen sich wohl auf mehr als 500 Millionen Euro. Längst gibt es kein „Tafelsilber“ mehr, das sich zu Geld machen ließe. Und Ende 2015 schließt auch noch die Zeche Auguste Victoria, der letzte große Arbeitgeber vor Ort. Direkt betroffen sind 3.700 Mitarbeiter, bei den Zulieferern noch mehr.
„Uns sind die Hände gebunden“, seufzt Bürgermeister Werner Arndt in seinem Büro, während der Kaff ee kalt wird. Belastend ist nicht nur das Schuldengebirge, das Arndt von seinen Vorgängern geerbt hat, sondern auch der Versuch der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, dieses Gebirge abzutragen. Sie hat einen „Stärkungspakt“ aufgelegt, um die Kommunen aus der Schuldenspirale zu holen. 27 hochverschuldete Gemeinden können daran freiwillig teilnehmen, 34 überschuldete wurden dazu gezwungen – darunter Marl.
Eigentlich hat die Gemeinde ihr Tafelsilber schon verkauft
„Wir bekommen einen Zuschuss vom Land, müssen dafür aber einen Sanierungsplan vorlegen“, erklärt Arndt. Ansonsten würde die Stadt ihre kommunale Selbstbestimmung verlieren und künftig von einem „Sparkommissar“ verwaltet. Der Sparplan allerdings zwingt zu Kürzungen nicht nur in der Infrastruktur und im Straßenbau, sondern vor allem im sozialen und kulturellen Bereich: Schulen, Kindergärten, Fahrradwege – alles muss zusammengelegt, aufgeschoben oder ganz gestrichen werden. „Dazu kommen Verpflichtungen, die uns der Bund überträgt, wie die Bereitstellung von Kita-Plätzen oder der Solidaritätszuschlag für Kommunen in den neuen Ländern.“ So erhält Marl aus dem Stärkungspakt jährlich sechs Millionen Euro, von denen die Stadt fünf Millionen gleich wieder in den Osten überweisen muss. Da werde Finanzpolitik „nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach der Kompassnadel“ gemacht, meint Arndt.
Aufgerufen sind auch die Bürger, im Internet ihre Sparvorschläge einzubringen. Da wird angeregt, die Ampeln auf LED umzustellen, die Laternen ab 22 Uhr abzuschalten, die Grundsteuer zu erhöhen, mehr Strafzettel zu verteilen oder in der Verwaltung auf Farbausdrucke zu verzichten. Viele Bürger stören sich am Dienstwagen des Bürgermeisters, einem Audi A6, dabei sei das laut Arndt ein „sehr gutes Leasing-Angebot“. Neuerdings gäbe es sogar ein noch günstigeres Angebot – aus Stuttgart. Aber wie solle er es seinen Bürgern erklären, wenn er plötzlich mit einem Mercedes zu seinen Terminen erscheint?
Um die beiden Rathaustürme mit dem Skulpturenmuseum gruppieren sich die gigantischen Riegel mehrerer Hochhäuser, wie sie in den 70er-Jahren schick gewesen sein mögen. Als Anziehungspunkt gedacht war die hochmoderne Mall namens „Marler Stern“, wo sich unter dem größten Luftkissendach Europas rund 130 Geschäfte ansiedeln sollten. E-Plus, Reno oder Takko sind noch da, vom ehemaligen Hauptmieter Karstadt kündet nur noch der phantomhafte Schriftzug auf dem Waschbeton an der Fassade – dort, wo die Lettern einst prangten. Spätestens dieser Verlust machte den „Marler Stern“ zu einem Einkaufszentrumszombie. „Wer soll denn hier einkaufen?“, fragt die resolute Bedienung eines kleinen Restaurants, das sich in einem der leeren, viel zu großen Räume eingemietet hat: „Was soll denn eingekauft werden? Nein, das wird nicht besser!“
Ebenfalls im Zentrum, gleich neben dem denkmalgeschützten Gebäude des Adolf-Grimme-Instituts, steht in einem verwilderten Park ein weiteres Zeichen dafür, dass es hier auch einmal ganz andere Zeiten gegeben hat. Kühn und kantig erhebt sich da zwischen wuchernden Hecken das Hallenbad aus den 60er-Jahren. Seit 2001 ist es wegen Baufälligkeit geschlossen, sogar zum Abriss fehlt seitdem das Geld. Die gläserne Fassade ist an vielen Stellen von Steinwürfen zersplittert und notdürftig mit Holzplatten abgedichtet, auf der Terrasse steht hüfthoch das Gras, und zwischen den blauen Schleifen der Wasserrutsche sind gleichmütig die Bäume gewachsen.
Von den Sportvereinen haben nur wenige überlebt
„Datt is ’ne Tragödie, da habe ich seinerzeit noch schwimmen gelernt“, erinnert sich Claus Lanczek und schüttelt den Kopf. Er sagt „datt“ statt „das“, wie das die Menschen im Ruhrpott eben so machen und was immer so klingt, als würde mit der flachen Hand auf den Tisch gehauen. Datt. Zupackend und bestimmt. Hauptberuflich arbeitet Lanczek unter Tage im Bergwerk, demnächst winkt die Rente. Ehrenamtlich ist er der „Fußballchef“ der Stadt. Und einer ihrer Bürger, die der Misere nicht tatenlos zusehen wollen. Er hat sie am eigenen Leib erfahren, als die Spielstätten für seinen alten Verein zusehends verfielen. Kein Geld für Investitionen, kein Geld für Reparaturen. Elf Fußballvereine gab es einmal, Bergarbeitervereine, Chemievereine, Gastarbeitervereine. Geblieben sind nur wenige.
„Da haben wir uns mal zusammengesetzt und überlegt, was wir der Stadt anbieten können“, sagt Lanczek. Drei Vereine boten an, zu einem neuen Verein zu fusionieren und der Stadt ihre Sportplätze zu überlassen, damit sie eingeebnet und die Grundstücke verkauft werden können. Bedingung war, dass im Gegenzug eine moderne Spielstätte errichtet werden sollte. Es war ein Angebot, das die Stadt nicht ablehnen konnte. 2005 wurde die Fusion beschlossen. Erst heute, sieben Jahre sowie „69 Treffen mit dem Amt“ später, sitzt Lanczek zufrieden an einem Tisch im neuen Vereinsheim. Die neue Mannschaft heißt selbstbewusst FC Marl 2011 und spielt derzeit im Mittelfeld der Bezirksliga. Kein Aufstieg in Sicht, aber auch nicht vom Abstieg bedroht.
Hinter Lanczek liegt auf einem Plateau der neue Fußballplatz mit Flutlicht, Tribüne und pflegeleichtem Kunstrasen. Ein einsamer Laubbläser dreht seine Runden. Daneben üben sich Schüler des benachbarten Albert-Schweitzer-Gymnasiums auf einem ebenfalls neuen Rasenplatz im Speerwurf. Ein dritter Kunstrasenplatz ist noch im Bau, Arbeiter sind keine zu sehen, Bagger auch nicht. Der Wind trägt in Zeitlupe bleiche Sandhaufen ab. „Datt dauert“, sagt Lanczek mit bewährtem Gleichmut, „aber datt wird.“