1914: Das Öl sprudelt
Venezuela ist ein ziemlich armes Land, viele Menschen sind Analphabeten und bauen selbst Getreide und Gemüse an, als Geologen der Caribbean Oil Company im venezolanischen Bundesstaat Zulia das erste größere Erdölvorkommen für sich entdecken. Seit dem 31. Juli 1914 sprudelt es aus einem 135 Meter tiefen Loch neben dem Maracaibo-See, 264 Barrel am Tag. Präsident Juan Vicente Gómez verlangt von den ausländischen Firmen zunächst keine Steuern und Förderzinsen, im Gegenzug stützen diese seine Diktatur. Die Regierung baut Straßen und Telegrafenmasten und kann ihre Staatsschulden zurückzahlen. Vom neuen Reichtum profitieren zuallererst die Mächtigen. Als Gómez 1935 stirbt, ist er einer der wohlhabendsten Männer Lateinamerikas – und Venezuela der größte Ölexporteur der Welt.
1936: Die erste Warnung
Weil Venezuela immer mehr Öl exportiert und die US-Wirtschaft in die Krise geraten ist, ist der venezolanische Bolívar plötzlich eine der stärksten Währungen der Welt. Daran geht die Landwirtschaft kaputt, von der die meisten Venezolaner bisher gelebt haben: Es lohnt sich einfach nicht mehr, Kaffee und Kakao zu exportieren, da sich die Kunden im Ausland die venezolanischen Produkte nicht mehr leisten können. Dafür können die Venezolaner nun selbst importieren wie nie. Arturo Uslar Pietri warnt als einer der Ersten vor dem Fluch des Öls. Der Journalist und Literat schreibt am 14. Juli 1936 in einem Zeitungskommentar: „Wir müssen das Öleinkommen in einen Agrarkredit umwandeln.“ Sinnvoll investieren also, nicht verschwenden. Das werden später viele Präsidenten aufgreifen.
1953: Modernisierung ohne Grenzen
Was tun mit den vielen Petrodollars? Marcos Pérez Jiménez, der junge General, der sich 1952 selbst zum Präsidenten ernennt, lässt Architekten aus den USA und Europa einfliegen, die eine Autobahn durch einen Berg zum Flughafen bauen sowie riesige Viadukte und Wolkenkratzer. Die Hauptstadt Caracas, in der es noch viele Lehmhütten gibt, wird zu einer futuristischen Metropole. Im ganzen Land errichtet man Elektrizitätswerke und Krankenhäuser, die Malaria wird deutlich eingedämmt. All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Venezuela vom Rohstofffluch befallen ist, wie Ökonomen es nennen: Das Land hängt von einem einzigen Exportgut ab, dem Öl, das inzwischen aus mehr als 9.000 Bohrlöchern gepumpt wird. Und das ist gar nicht gesund, weil man vom Ölkurs abhängig ist und der Rest der Wirtschaft vernachlässigt wird.
1976: Der Traum vom „Großen Venezuela“
An der ersten Ölkrise 1973 kann man ablesen, wie mächtig die OPEC ist, der Zusammenschluss erdölfördernder Länder, bei dem Venezuela 1960 Gründungsmitglied war. Einige der Mitglieder beschließen, die Ölpreise in die Höhe zu treiben und gleichzeitig ein Embargo gegen Israel- freundliche Staaten zu verhängen. Während in den USA und der Bundesrepublik die Autos stehen bleiben, fließt in Venezuela das Geld. Das venezolanische Pro-Kopf-Einkommen ist ähnlich hoch wie in der Bundesrepublik. Es wächst eine Mittelschicht heran, die das schöne Leben entdeckt. Der demokratisch gewählte Präsident Carlos Andrés Pérez entwirft den Plan von einem „Großen Venezuela“, das sich nachhaltig wirtschaftlich entwickeln soll. Er verstaatlicht die Ölreserven, führt Sozialleistungen ein und investiert in Bildung. Die zweite Ölkrise in den 1980er- Jahren – ausgelöst von der Revolution in Iran und dem ersten Golfkrieg – macht dies zunichte. Der Ölpreis fällt in den Keller, 1983 wird der Bolívar massiv abgewertet, in Venezuela wird alles teurer. Als aufgrund der gestiegenen Benzinpreise auch die für Bustickets über Nacht erhöht werden, gehen die Leute auf die Straße. Die Ausschreitungen im Jahr 1989 werden brutal niedergeschlagen und enden mit vielen Toten. Lange Zeit wird sich keine Regierung an den Benzinpreis trauen. Benzin ist bald billiger als Wasser.
1998: Chávez gewinnt – und verzockt sich
1992 hatte der Oberstleutnant Hugo Chávez Frías noch versucht, per Militärputsch an die Macht zu kommen. Auf demokratischem Weg hat er im Jahr 1998 Erfolg. Als Präsident will er das Land von der verkrusteten Parteienlandschaft befreien, lässt eine neue Verfassung ausarbeiten. „Venezuela verfügt über so viel Reichtum, der ein Jahrhundert lang an die Weltmächte verschenkt wurde, und uns blieb nur das Elend“, sagt Chávez in olivgrüner Uniform in einer Ausgabe seiner Fernsehsendung „Aló, Presidente“, in der er sonntags stundenlang seine Politik erklärt. Jetzt endlich soll das Erdöl für alle Ernte abwerfen, verspricht er. Nachdem er 2002 kurzzeitig aus dem Amt geputscht wird – vermutet wird eine Beteiligung der USA – und einen zweimonatigen Massenstreik übersteht, entlässt Chávez Tausende von Arbeitern des staatlichen Ölkonzerns und ersetzt sie mit regierungstreuen Leuten. Dabei geht viel Know-how verloren. Weil der Ölpreis stark steigt – um das Fünffache allein in den ersten fünf Jahren seiner Präsidentschaft – und die Einnahmen so hoch sind wie nie, hat er Gestaltungsspielraum. Chávez richtet Sozialprogramme ein. In den Armenvierteln versehen Ärzte aus Kuba ihren Dienst, Sozialwohnungen werden gebaut, Strom und Wasser subventioniert. Seinen Anhängern gefällt das, Chávez gewinnt eine Wahl nach der anderen. Die Zahlen geben ihm recht: Armut, Ungleichheit und Kindersterblichkeit gehen zurück, mehr Venezolaner können lesen und schreiben. Doch weiterhin wird wenig in andere Wirtschaftssektoren investiert, die Abhängigkeit vom Öl bleibt. Die Kriminalität bekommt die Regierung jedoch nicht in den Griff. Mit jährlich mehr als 100 Morden pro 100.000 Einwohner ist Caracas eine der gefährlichsten Städte der Welt. Und es bleibt das Importproblem: 70 Prozent der verkauften Produkte werden eingeführt. Essen, Klamotten, Handys. Damit die Preise nicht explodieren, führt die Regierung für die Güter des täglichen Bedarfs Festpreise ein. Es rentiert sich, nicht nur Benzin über die Grenze nach Kolumbien zu schmuggeln, sondern auch Mehl oder Milchpulver. Sparen hingegen lohnt sich nicht wegen der hohen Inflation, deshalb kauft, wer kann, harte Währungen. Weil dadurch der Bolívarkurs weiter sinkt, führt die Regierung einen fixen Dollarkurs ein. Wer zu diesem Kurs Dollars eintauschen darf, da er beispielsweise Medikamente importieren soll, kann wie von Zauberhand sein Geld vermehren, wenn er stattdessen die Dollars auf dem Schwarzmarkt zurück in Bolívars tauscht. Denn der Bolívar ist in der Realität viel weniger wert, als die Regierung es gern hätte: Auf dem Schwarzmarkt bekommt man ein Zigfaches vom offiziellen Kurs, später sogar hundertmal so viel. Ab 2007 führt Chávez den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ein, nach und nach werden private Unternehmen enteignet. Gleichzeitig versucht er, seine Revolution nach ganz Lateinamerika zu exportieren, verteilt großzügig Öl – und übernimmt sich dabei. Denn nachdem der Ölpreis 2008 seinen Höhepunkt erreicht hat, stürzt er ab. Was hoch bleibt, sind die Staatsausgaben und die Korruption. Im Jahr 2012 sollen allein durch Wechselbetrug 20 Milliarden Dollar versickert sein.
2013: Ein schwieriges Erbe
Nachdem Hugo Chávez Anfang 2013 an Krebs gestorben ist, kommt Vizepräsident Nicolás Maduro an die Macht. Der frühere Busfahrer mit dem markanten Schnauzbart ist im Vergleich zu Chávez ein langweiliger Redner ohne greifbare Vision. Obwohl nicht beliebt, kann er sich halten, weil er das Militär hinter sich weiß, die Opposition zersplittert ist und er das Erbe von Chávez bewahrt, dem viele nachtrauern. Die Menschen haben jetzt sogar Schwierigkeiten, Klopapier zu kaufen. Hier zeigt sich die gesamte Misere der Wirtschaft. Die Herstellerfirmen bekommen keine Dollars zum offiziellen Kurs von der Bank, um die Rohstoffe zu beziehen. Und wenn sie welche importieren können, müssen sie oft Schmiergelder bezahlen. Da die Regierung die Verkaufspreise sehr niedrig festgelegt hat, zahlen die Hersteller am Ende häufig sogar drauf. Die Händler horten Rollen, um sie teuer an die ungeduldigen Kunden weiterzuverkaufen. Diese decken sich mit viel mehr Toilettenpapier ein, als sie brauchen, sobald es irgendwo welches gibt. Die leeren Regale werden zum Politikum. „Wollt ihr das Vaterland, oder wollt ihr Klopapier?“, fragt der Außenminister. Der Chef der Statistikbehörde argumentiert: Der Mangel an Klopapier belege doch nur, dass die Venezolaner jetzt mehr aufs Klo müssen. Weil sie mehr zu essen hätten.
2016: Tief in der Krise
Venezuela wird abgehängt, nach und nach stellen internationale Airlines ihre Flüge dorthin ein. Die Lufthansa beispielsweise, für die Caracas einst ein wichtiges Drehkreuz war, landet dort im Sommer 2016 zum letzten Mal. Der Grund: Die Regierung schuldet den Airlines Millionen aus Ticketverkäufen, da sie es nicht schafft, genügend Bolívares in Dollar umzutauschen. Eigene Fehler will die Maduro- Regierung nicht wahrhaben, sie präsentiert sich als Opfer in einem Wirtschaftskrieg mit den USA, die mit sicherheitspolitischer Begründung mehrfach Sanktionen gegen das Land verhängten, darunter ein eingeschränktes Ölembargo im Jahr 2011. Dass man selbst nicht in der Lage ist, die verstaatlichten Firmen ordentlich zu führen, und Strom und Wasser regelmäßig abgestellt werden, verschweigt man lieber. Viele Menschen haben nicht genügend zu essen. In den staatlichen Supermärkten ist der Verkauf streng rationiert, einkaufen darf man nur einmal die Woche nach langem Schlangestehen. Ein neuer Berufszweig ist entstanden: Die „Bachaqueros“, die Schwarzmarkthändler, kaufen Shampoo oder Nudeln billig ein und verticken sie weiter, zehnmal so teuer. Zwei Pakete Maismehl, aus dem die Venezolaner traditionell ihre Frühstücksfladen backen, verschlingen den Lohn einer Woche. In den Krankenhäusern und Apotheken gibt es kaum noch Medikamente. Viele Kinder sind unterernährt, weil sie vor allem Mangos essen. Wer im Café einen Kaffee trinken will, muss einen ganzen Stapel 100-Bolívar-Scheine auf den Tisch blättern. 2017 wird die Inflationsrate auf 500 bis 700 Prozent gegenüber dem Vorjahr klettern, je nach Schätzung.
2017: Ein Fluch für immer?
Wie schon 2014 protestieren Hunderttausende im Land gegen die Regierung, mehr als hundert Menschen werden dabei getötet. Maduro lässt eine verfassungsgebende Versammlung wählen, die das Parlament ersetzt und ihm mehr Macht sichern soll. Das Land droht in einen Bürgerkrieg abzugleiten. Erdöl kann immer weniger gefördert werden, weil die Anlagen marode sind. Theoretisch würden die Vorräte noch mindestens drei Jahrhunderte reichen.
Titelbild: Fabiola Ferrero/El Estímulo