Kondor wird nach allen Regeln der Kunst vermöbelt. Eine schnelle Rechte mitten ins Gesicht, dann noch eine. Blut spritzt durch den Boxring und verschmiert die im Bild eingeblendeten gelben Lettern seines Namens: „Kondor“. Joel Basman, der den Kondor so überdreht spielt wie die meisten seiner bisherigen Rollen, schreit und zappelt im Ring herum wie Robert De Niro als „Raging Bull“. Die Milieufiguren, die flotte Exposition, die lakonische Erzählerstimme: Der Anschluss an den filmischen Kosmos von Martin Scorsese ist hier bewusst gesetzt und wird nicht der einzige Bezug auf namhafte Vorbilder bleiben.

„Es war einmal Indianerland“ ist das Spielfilm-Debüt von İlker Çatak, der bereits mehrere prämierte Kurzfilme vorgelegt und für sein Abschlussprojekt an der Hamburg Media School 2015 den sogenannten „Studenten-Oscar“ gewonnen hat. Çatak ist also das, was man in der deutschen Filmszene sehnsuchtsvoll einen Hoffnungsträger nennt, und als solcher durfte er bei seiner ersten Arbeit fürs Kino gleich ein erfolgreiches Buch verfilmen. Der gleichnamige Coming-of-Age-Roman ist so filmisch geschrieben, dass es dem Autor Nils Mohl kaum schwergefallen sein dürfte, seinen eigenen Stoff für die Leinwand zu adaptieren. So finden sich die wilden Zeitsprünge und der ungewöhnliche Du-Erzähler schon im Buch, aber Çatak begegnet der dankbaren Vorlage mit genau dem Übermaß an Regie-Einfällen, das einen guten Debütfilm auszeichnet.

Witz – im deutschen Film?

Da rasen die Bilder im Zeitraffer über die Leinwand, wenn der Film blitzschnell vor- und wieder zurückgespult wird, weil der notorisch unzuverlässige Erzähler noch mal neu ansetzen muss. Die ständig wechselnde Brennweite der Kamera, die Bildstörungen und Jump Cuts setzen die jugendliche Verunsicherung von Mauser (Leonard Scheicher) effektvoll in Szene. Gründe für einen 17-Jährigen, verwirrt zu sein, häuft der Film jedenfalls schon in den ersten fünf Minuten an: Mauser verliebt sich Hals über Kopf in das Abziehbild eines Instagram-Models, wichtige Boxkämpfe stehen an, sein Nachbar Kondor macht ihm Stress und eine neue Nachbarin komische Avancen – und zu allem Überfluss erwürgt Vater „Zöllner“ aus Versehen seine Lebensgefährtin.

Klar, der Plot klingt jetzt nach einem bleischweren Sozialdrama, zumal „Indianerland“ in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand spielt. Das heißt im deutschen Kino meist nichts Gutes. Solche Filme tragen Titel wie „Knallhart“, um zu betonen, wie heavy und real sie sind. Çatak und Mohl machen hier aber etwas völlig anderes. Sie entziehen dem Stoff mit ihrer immer leicht ironischen Fabulierlust die Schwere – auch wenn die Handlungskonflikte dadurch ein wenig verwässern. Sie erzählen überzeichnet, aber nicht unglaubwürdig von Techno-Festivals und heimlichen Poolpartys. Und sie schicken ihre Figuren in Wortgefechte, in denen Quatschsätze fallen wie: „Das Wildschwein ist der Bison des kleinen Mannes.“ Genau diese Haltung fällt in einigen deutschen Nachwuchsfilmen auf und sie bringt gelegentlich etwas hervor, das man hierzulande im Kino kaum kennt: Witz.

Immer mit dabei: Außenseiter, Sonderlinge und Draufgänger

Hierfür ist keine Gruppe von Filmschaffenden verantwortlich, die eine gemeinsame Idee vom Kino verfolgt oder unter ähnlichen Umständen produziert. Vielmehr sind in formal sehr unterschiedlichen Filmen Ähnlichkeiten in der Darstellung von Jugendlichkeit zu beobachten, die sich vielleicht am ehesten auf den folgenden gemeinsamen Nenner bringen lassen: Schwere Themen werden leicht, meist komödiantisch inszeniert; die Protagonisten sind Außenseiter, Sonderlinge und Draufgänger, sie sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, wollen ihre Grenzen austesten und feiern an irgendeinem Punkt des Films auf einer heimlichen Poolparty. Wie in Çataks Film diente nämlich auch schon im Coming-of-Age-Horror „Der Nachtmahr“ (2016) eine nächtliche Partyszene im Schwimmbad dazu, die jugendliche Lebenswelt der 2010er-Jahre zu beschreiben.

Wenn es um das Anarchische und den Witz in der Figurenzeichnung geht, verfolgen die Mumblecore-Filme der Brüder Jakob und Tom Lass eine eigene Strategie. Die Jugendlichen in „Love Steaks“ (Jakob Lass, 2013), „Käpt’n Peng“ (Tom Lass, 2013) und zuletzt in „Blind & Hässlich“ (Tom Lass, 2017) wirken gerade deshalb so lebendig, weil sie sich so skurril und teils wider jede Drehbuchlogik verhalten – wohl auch, weil es kein Drehbuch gibt. So stellt sich Jona im neuesten Lass-Film blind, um in einem Sehbehindertenwohnheim unterzukommen und sich dem soziophoben Ferdi besser annähern zu können. Aus dieser Grundkonstellation und einer lose montierten Sammlung improvisierter Szenen entwickelt „Blind & Hässlich“ eine schräge Komik, die immer wieder die erwartete Dramaturgie unterläuft.

Wie eine Poolparty mit Bademeister und Erziehungsberechtigten

Auf die junge Generation ist man derweil auch bei Constantin aufmerksam geworden, der größten deutschen Filmproduktionsfirma. Jakob Lass hat seinen letzten Film „Tiger Girl“ dort herausgebracht, sein nächster Film wird von Constantin sogar produziert. „Bunt, wild und unangepasst“, das nimmt man beim deutschen Branchenführer so wörtlich, dass Tabubrüche im Jugendfilm schon routinemäßig eingebaut werden: In Helene Hegemanns eigener Romanverfilmung „Axolotl Overkill“ (2017) driftet eine 16-Jährige durch die zugekokste Berliner Kulturschickeria und fantasiert darüber, sich „mal so richtig vergewaltigen zu lassen“. Und in „Tigermilch“, einem heillos überfrachteten Coming-of-Age, provozieren zwei Mädchen auf offener Straße mit „Nazi! Fotze! Jude!“. Dies sind dann Filme, deren Nonkonformismus eine Behauptung bleibt. Anders als etwa in „Es war einmal Indianerland“ wirkt es hier, als finde die Poolparty mit Bademeister und Erziehungsberechtigten statt.

„Es war einmal Indianerland“, Deutschland 2017; Regie: İlker Çatak, Buch: Nils Mohl, mit: Leonard Scheicher, Johanna Polley, Emilia Schüle, Joel Basman; 97 Minuten

Titelbild: CAMINO