"Yiddos! Yiddos! Does your Rabbi, does your Rabbi, does your Rabbi know you’re here?", brüllten Arsenal-Fans den Fans des Lokalrivalen Tottenham Hotspur entgegen, um sie zu provozieren. Es war der 3. April 1976 und die "Yiddos! Yiddos!"-Sprechchöre begleiteten seit einem Jahr regelmäßig die Derbys zwischen Tottenham und den anderen Londoner Clubs West Ham, Chelsea und Arsenal.
Am 3. April 1976 hatten die Tottenham-Fans genug. Ein Hooligan-Trupp stürmte die Nordkurve, wo die Arsenal-Fans standen, und skandierte dort: "Yiddos took the North Bank! Yiddos took the North Bank!" Seit diesem Tag bezeichnen sich die Tottenham-Anhänger selbst stolz als "Yids", also als Juden, und deuten so den eigentlich abwertend gemeinten Spitznamen positiv um.
John M. Efron, Professor für jüdische Geschichte an der Universität von Kalifornien, Berkeley, erlebte im Herbst 2000 bei einem Spiel zwischen Manchester und Tottenham selbst, wie beim Einlaufen der Mannschaften ein gewaltiges Geschrei einsetzte und aus tausenden Männerkehlen der gleiche Schlachtruf ertönte: "Yids, Yids, Yids!" Seitdem erforscht er, wie es dazu kam, dass die Fans von Tottenham Hotspur eine jüdische Identität annahmen. Denn die Mehrzahl der Tottenham-Fans sind überhaupt keine Juden.
"Dass die Tottenham-Anhänger den rassistisch gemeinten Spitznamen, statt sich vor ihm zu ducken, sich als Ehrennamen zu Eigen machten, das hat dem Spott die Wirkung genommen", sagt Efron.
Tottenham und auch Ajax Amsterdam, wo man ein ähnliches Phänomen der Identitäts-annahme beobachten kann, gelten als "Judenclubs", obwohl sie es nie waren, sie hatten höchstens mal einen jüdischen Präsidenten oder ein paar jüdische Spieler. Dennoch hat Ajax eine jüdische Tradition, die mit der jüdischen Tradition von Amsterdam als "Jerusalem Europas" zusammenhängt.
Zwar liegt Tottenham in Nordlondon, wo die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung Londons lebt, doch haben Arsenal, ebenfalls in Norden gelegen, und Chelsea im Westen mehr jüdische Fans. Seinen Ruf als Judenclub verdankt Tottenham dem Fernsehen. In den 1960ern lief in England die populäre Comedyserie Till Death Us Do Part. Der Hauptdarsteller, ein rassistischer Nationalist mit dem Schal seines Vereins West Ham um den Hals, beklagte dauernd den Niedergang Englands. Einmal sagte er, dass West Ham bald gegen die "Yids" spielen werde. "Seitdem ist die Verbindung von Tottenham und ,Yids’ in die Umgangssprache eingegangen", sagt Efron. Bis die "Yiddo-Kultur" entstand, wie Efron die Selbstbezeichnung der Tottenham-Fans als "Yids" oder "Yid Army" und die Reaktionen der Gegner darauf nennt, vergingen allerdings noch einige Jahre.
In den Siebzigern schwappte mit dem Aufkommen der National Front eine rassistische Welle über den englischen Fußball. Schwarze Spieler, die vermehrt in der englischen Liga spielten, wurden mit Bananen beworfen. Und die Tottenham-Fans, unter ihnen viele Skin-heads, wurden eben mit antisemitischen Sprechchören empfangen, bis sie sich die Beschimpfung als neue positive Identität aneigneten. Bei Spielen der Hotspur ist seither die israelische Flagge zu sehen, Tottenham-Fans tragen T-Shirts mit Aufdrucken wie "Yid 4 Life" und Atemschutzmasken als Kippas.
"Nichts schweißt eine Gruppe mehr zusammen als eine Attacke von außen", erklärt der Fußballsoziologe Gunter A. Pilz diese Reaktionen. Identität ist für Fangruppen extrem wichtig. Deshalb wollen sie regelrecht gehasst und als Außenseiter gesehen werden. Nichts wirkt da so gut wie Antisemitismus – ein Jude genannt zu werden heißt, marginalisiert zu sein. Um sich nach außen abzugrenzen, nimmt man vollkommen die Identität der Gruppe, in diesem Fall des Vereins, an. Schon in den dreißiger Jahren wiesen die Sozialpsy-chologen Muzafer und Carolyn Sherif dieses gruppendynamische Verhalten in ihrem so genannten Ferienlagerexperiment nach. Die Aneignung der Vereinsidentität hat laut Pilz aber noch eine zweite Funktion: "Wenn ein Verein beschimpft wird und ich nehme dennoch genau diese Identität an, provoziere ich damit die andere Seite. Die Provokation nimmt dann noch zu, wenn die Gegner wissen: Das sind überhaupt keine Juden." In Europa ist dieses Phänomen außer bei Tottenham und Ajax nur noch von den Fans von Roter Stern Belgrad bekannt, die sich die als Schmähung gedachte Bezeichnung "Zigeuner" zu Eigen machten.
Je mehr die Ajax- und Tottenham-Fans die jüdische Identität annahmen, umso schlimmer wurden die Beleidigungen. Anfangs ging es meist um die Beschneidung oder jüdische Essensgewohnheiten, dann rückte der Holocaust in den Mittelpunkt der Schmähungen. Die schlimmste Form: Alle Fans auf der Tribüne zischen und imitieren so das Ausströmen von Gas. "Die nichtjüdischen Tottenham-Fans haben darauf so entsetzt reagiert, wie man es nur von wirklichen Juden erwarten würde", sagt Efron. "Wenn sie ins Stadion gehen, fühlen sie sich wirklich als Juden und nennen auch jeden Spieler, den sie mögen einen ,Yiddo’." Das bekannteste Beispiel ist Jürgen Klinsmann, der 1994 nach Tottenham kam. "Zur Melodie von Mary Poppins sangen die Fans ihm zu Ehren: Chim chiminee, chim chiminee, chim chim churoo, Jürgen was a German, but now he is a Jew!"
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