Als Kind hätte Lin gern einen Namen wie „Tanja König“ gehabt, für den es bei Nanu-Nana einen Kühlschrankmagneten zu kaufen gibt. Stattdessen gab ihr ihre Mutter einen Namen, der in China funktioniert und den die Leute in Deutschland trotzdem aussprechen können. Lin glaubt, dass sie auch deshalb versucht, „irgendwie chinesisch zu sein und es den Leuten trotzdem leicht zu machen“. Von der Suche der jungen Frau nach ihrer eigenen Identität erzählt die Autorin Lin Hierse in ihrem ersten Roman „Wovon wir träumen“.
Hierse kam 1990 in Braunschweig zur Welt. Heute lebt sie in Berlin und ist seit 2019 Redakteurin der Tageszeitung „taz“, für die sie die Kolumne „Poetical Correctness“ schreibt. In ihrem Debütroman erzählt sie aus der Ich-Perspektive vom Leben einer gleichnamigen jungen Frau, die als Tochter einer ausgewanderten Chinesin in Deutschland zur Welt gekommen und aufgewachsen ist. Die Protagonistin Lin ist 27 Jahre alt, lebt in einer Einzimmerwohnung in Berlin und schreibt ebenfalls beruflich. Die biografischen Parallelen zwischen der Autorin und der Protagonistin verleiten dazu, die beiden Frauen miteinander gleichzusetzen. Hierse sagte dazu in einem Interview, von ihr selbst stecke „alles“ und „gleichzeitig nur ein Ausschnitt“ im Roman.
Als die Mutter der Tochter vorwirft, keine „echte Chinesin“ zu sein
Die zweite wichtige Figur ist Lins „Ma“, die als Dolmetscherin für einen großen deutschen Autohersteller arbeitet. Als junge Frau packte sie in China alles, was sie für einen Neuanfang brauchte, in einen roten Hartschalenkoffer und begab sich auf die Suche nach einem neuen Leben – nach Deutschland. Sie nahm damit selbst in die Hand, wo ihre Heimat sein soll. Für Mas Mutter Ab’u, mit deren Beerdigung der Roman beginnt, lag diese inmitten von Bambuswäldern auf einem Berg im ostchinesischen Shaoxing.
Die Beisetzung gibt im Roman auch den Anstoß für Lins eigene Identitätssuche. In kurzen, chronologisch nicht geordneten Anekdoten erzählt Hierse die Geschichte von Mutter und Tochter. Warum ist die Mutter ausgewandert, wie hat die Migrationserfahrung ihr Leben geprägt – und wie das der Tochter?
Das Verhältnis der beiden Protagonistinnen ist dabei zwiegespalten. Ihre Mutter ist für Lin mal Freundin, mal Verbündete, mal Vorbild. Sie ist ihr „Kompass der Welt“, der sie vor allem durch China navigiert. Für Konflikte sorgt jedoch die Frage nach Zugehörigkeit, die die Protagonistin umtreibt. Ihren schlimmsten Streit haben sie, als die Mutter der Tochter vorwirft, keine „echte Chinesin“ zu sein. Noch nie zuvor, heißt es, war ihr so direkt attestiert worden, ein „Fremdkörper“ zu sein. Mit dem Vorwurf trifft Ma einen wunden Punkt bei ihrer Tochter.
Der Wechsel zwischen den Sprachen und Identitäten strengt Lin an. Vom ständigen Übersetzen kommen nach Einschätzung der Mutter auch die Kopfschmerzen, die die Protagonistin plagen. „Von Mas Migration habe ich Anekdoten, Gefühle und Gegenstände geerbt“, sagt Lin. Selbst im Traum lässt sie ihre Herkunft nicht los.
Mehrmals begegnet sie in Traumsequenzen längst verstorbenen Verwandten, mit denen sie gemeinsam isst oder Karten spielt. Für die Protagonistin sind es gute Träume, bis sie die Toten zurücklassen, ohne ihr zu verraten, wo sie hingehen.
Wörter sind in Lins bilingualer Welt greifbare, aktive Subjekte
Hierse erzählt das alles in einer klaren, reduzierten Sprache. Die Bilder, die sie einstreut, sind dafür umso anschaulicher. Zum Beispiel wenn die Protagonistin sagt, die Müdigkeit habe sich „um ihren Körper gewickelt wie ein nasses Handtuch“. Oder wenn sie nach der beschwerlichen Reise nach Shaoxing einen Schluck von der „guten“ Sojamilch nimmt und das Gefühl hat, ihr Magen werde „von innen umarmt“. Besonders anschaulich beschreibt Hierse Sprache. Wörter sind in Lins bilingualer Welt greifbare, aktive Subjekte. Sie „rollen auf den Boden“, legen sich schlafen oder fliegen stumm aus dem Mund „wie in Watte gepackt“.
Feinsinnig erzählt Hierse so die Geschichte einer jungen Frau, die versucht, ganz anders zu sein als ihre Mutter, und trotzdem immer wieder bei ihr ankommt. Lin tut absichtlich Dinge, die ihre Ma nicht mag, indem sie ihre Haare kurz trägt oder Zigaretten raucht. Dass die kurzen Haare ihrer Mutter nicht gefallen, verletzt Lin, und die Zigaretten schmecken ihr nicht. Je mehr sie sich aber mit der Biografie und Gedankenwelt ihrer Mutter auseinandersetzt, desto inniger wirkt die Verbindung der Frauen. Der Weg dorthin ist manchmal schmerzhaft und untrennbar mit der Migrationsgeschichte der Mutter verbunden. Er ist aber auch beglückend und bereichernd – für die Protagonistin und die Leser:innen.
Titelbild: Amelie Kahn-Ackermann