„Zahlen, bitte!“ Das hab ich schon oft gehört. Meist machen die Menschen, die diesen kurzen Satz sagen, bedeutungsvolle Gesten dazu. Ihr ganzer Körper signalisiert: Achtung, jetzt wird’s wichtig. Wie Jagdhunde, die Witterung aufgenommen haben, sehen sie dann aus. Und das Reh, das es zu erlegen gilt, bin ich, die Kellnerin, die ihnen hoffentlich bald die Rechnung bringt.
Durchgedrückter Rücken, leicht verrenkter Hals, große Augen, hochgezogene Augenbrauen, oft tun sie auch so, als schrieben sie etwas mit einem imaginären Stift auf ihre Handfläche. Das muss aus Zeiten stammen, als Quittungen noch auf einen Block gekritzelt wurden und nicht aus der vollautomatischen Kasse kamen. Aber in der Interaktion zwischen Gast und Bedienung hat sich so einiges eingeschliffen, was keinen Sinn mehr ergibt.
„Fräulein“ zum Beispiel. Warum ist das machomäßige Kleinmachen einer Frau überall sonst aus gutem Grund verpönt? Aber zu einer Kellnerin dürfen ältere Herren und Damen diese verbale Entgleisung noch sagen? Versteh ich nicht. Aber wir waren beim „Zahlen, bitte!“. Wer das sagt, ob nun mit oder ohne „Fräulein“ vorne dran, der hat es in der Regel sehr, sehr eilig.
Woher die Eile rührt, ist nicht immer eindeutig zu erkennen. Manchmal müssen die Menschen einfach nur schnell irgendwohin. Ins Kino oder ins Theater, oder auch dringend in die Horizontale mit dem- oder derjenigen, der oder die ihnen gegenübersitzt.
Oft sind die Gäste auch einfach nur vollgefressen und sehr müde, weil all das Blut, das sonst durch ihr Hirn zirkuliert, plötzlich dringend zur Verdauung benötigt wird. Oder sie haben sich alles erzählt, und bevor eine unangenehme Stille eintritt, die keiner mehr mit Worten zu füllen vermag, müssen sie schnell weg. Weg von diesem Tisch im Restaurant oder im Café, weil sie es offenbar nur unter seelischen Qualen noch länger dort aushalten können.
In jedem Fall ist der einmal gefasste und dann auch ausgesprochene Wunsch „Zahlen, bitte!“ trotz des zweiten Wortes meist keine Bitte, sondern ein Befehl, dem schnellstmöglich Folge zu leisen ist, sonst sinkt die Laune am Tisch rapide.
Betretenes Schweigen, gesenkte Blicke. Da wird Wachs vom Kerzenständer gepult, leere Zuckertütchen aus Papier klitzeklein gefaltet, es wird mit den Füßen gescharrt, „Tok, tok, tok“ mit der Ecke der EC-Karte auf die Tischplatte geklopft – bis die Bedienung es endlich mit der Rechnung an den Tisch geschafft hat. Dabei wusste die bis vor Sekunden noch gar nichts von dem dringenden Bedürfnis, hatte womöglich andere Tische zu bedienen, an denen hungrige oder durstige und deshalb ebenfalls ungeduldige Gäste sitzen. „Himmelherrgott, wo bleibt sie denn?“, murmelt es erst, dann lauter: „Hallo? Haben Sie uns vergessen?“
Schwierig ist das Verhältnis zwischen Bedienung und Gast, geradezu fragil. Denn – und das ist die große Tücke jedweder zwischenmenschlichen Interaktion – wer sich wie zu verhalten hat, ist nirgends eindeutig festgelegt. Keine zehn goldenen Regeln für den Restaurantbesuch, die man auswendig lernen oder hübsch eingerahmt irgendwo aufhängen könnte, auf dass sich alle daran halten. Stattdessen eine Menge Raum für Interpretation. Und Erwartungen. Und die sind ja immer Gift, vor allem dann, wenn sie unausgesprochen bleiben und man sie zwar vielleicht mit viel Empathie erahnen könnte, in jedem Fall aber sehr leicht enttäuschen kann.
Es bedarf also guter Manieren. Und die sind auch schwierig, denn sie entstammen dem Bereich der Sitte. Spätestens dort wird es undurchsichtig wie ein Badezimmerspiegel nach dem Duschen. Bemühen wir zunächst eine Definition: Sitten sind tradierte (was zählt heute noch die Tradition?), nicht als Gesetz fixierte (also nicht einklagbare) Normen einer Gesellschaft (zu dumm, dass wir alle Individuen sind), die in Form gelebter alltäglicher Regeln das soziale Handeln bestimmen. Das mag hilfreich gewesen sein, solange die Zahl der Menschen, die man kennt, überschaubar und das Leben durch die soziale Kontrolle anderer bestimmt war. Das aber ist nicht mehr der Fall. Gäbe es heute eine Webseite, bei der man sich als Gast vor dem Restaurantbesuch anmelden müsste und auf der die Kellnerin nach dem Besuch eine Bewertung hinterlassen könnte, dann sähe die Welt bestimmt ganz anders aus. Gibt es aber nicht. Wird es wohl auch nie. Wäre ja Überwachung.
Gute Manieren also. Auf beiden Seiten. Die hat man zwar – so prinzipiell. Aber man wendet sie nicht immer an. Besonders dann nicht, wenn man Hunger oder es eilig hat. Oder zu viele Gäste, die Hunger oder es eilig haben. Je nachdem. Vor allem aber dann nicht, wenn man generell ein Ekel ist oder ein netter Mensch mit einem schlechten Tag.
Besonders spannend wäre bei dem imaginierten Bewertungssystem übrigens der Punkt „Tip“, Trinkgeld. Denn darum geht es schließlich beim Zahlen, ums Geld. Das des Gastes, das er gut investiert wissen will. Und eben auch um das Geld der Bedienung. Schließlich bezahlt er für das, was er bekommt.
Der englische Begriff „tip“ wird von einem sehr schönen Entstehungsmythos begleitet, der sich allerdings nicht eindeutig belegen lässt. „To ensure promptness“, soll ein gewisser Edward Lloyd, der 1688 in London ein Kaffeehaus eröffnete, dort auf eine Blechdose geschrieben haben. Ob das nun stimmt oder nicht: Die Geschichte ist interessant. Denn offenbar musste man damals vor dem Service Trinkgeld geben. Vorher. Nicht nachher. Eine Art Bestechungsgeld also, um etwas zu erhalten, was in der gewöhnlichen Leistung nicht vorgesehen war. Nämlich Schnelligkeit.
An welchem Punkt das genau schiefgelaufen ist und sich alles derart unlogisch verdreht hat, so dass man heute erst am Ende Trinkgeld gibt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. In jedem Fall ist es höchst bedauerlich. So muss die Bedienung in Vorleistung gehen und trotz gänzlich ungewissem Ausgang auf ein gutes Trinkgeld spekulieren. Freundlich sein, schnell sein, lächeln, ein paar charmante Bemerkungen machen, all so was eben. Nur um dann oft genug der Schusseligkeit der Gäste ausgeliefert zu sein – „Ach, bei EC-Kartenzahlung kann man auch Trinkgeld geben?“ Oder dem Sadismus – „Die Kleine ist jünger als ich und sieht auch noch besser aus. Pah! Der zeig ich’s.“ Das alles könnte man sich sparen, wenn folgende einfache Regel gelten würde: Gutes Trinkgeld, guter Service. Schlechtes Trinkgeld, Service as usual. Und alle wüssten wieder Bescheid.
Marlene Halser, Jahrgang 1977, ist Journalistin, jobbte aber seit Beginn ihres Studiums immer wieder in der Gastronomie. Vielleicht gefällt ihr deshalb auch eine Szene aus der Wolf-Haas-Verfilmung „Der Knochenmann“ so gut. Da stellt der Wirt das Motto vom Kunden, der König ist, auf den Kopf: „Dös is koa Gasthaus, sondern a Wirtshaus“, knarzt er seiner Kundschaft entgegen und lässt sie kurzerhand mit all ihren unerfüllten Bestellungswünschen am Tresen stehen.